EM 2016 EM 2016: Wer hinter der "Obi"-Fahne steckt

Sandersdorf/Paris - Lille, Bordeaux, Paris, Marseille, St. Etienne. Und dann wieder Lille. Der Zeitplan ist eng, nur zwölf Tage Zeit für 14 Spiele. Und knappe 5 000 Kilometer zu fahren für Stefan Oberfranz und seine schwarz-rot-goldene Fahne mit der Aufschrift „Obi - SG Union Sandersdorf“.
Aber es ist Fußball-Europameisterschaft, die deutsche Mannschaft spielt - und wie immer ist auch Oberfranz da, den alle nur Obi nennen. Der 37-Jährige ist von Beruf Polizeibeamter, lebt in Sandersdorf (Anhalt-Bitterfeld) und pflegt ein ganz besonderes Hobby: Als Teil der selbsternannten „Fahnen-Mafia“, die das DFB-Team mit ihren Bannern und Zaunfahnen zu allen seinen Auftritten überall auf der Welt begleitet, ist der Sandersdorfer seit zwei Wochen in Frankreich unterwegs.
Mission mit drei Zielen
Die Mission, die der frischgebackene Familienvater mit einer Handvoll Gleichgesinnter teilt: Alle Spiele der deutschen Mannschaft erleben. Dazu alle Stadien des Turniers wenigstens einmal besuchen. Und drittens „so viele Spiele wie möglich sehen“, erklärt Oberfranz.
Den Fahnenhoppern geht es dabei nicht um persönlichen Ruhm oder Prominenz. Sondern allein um Beachtung für ihr Stück Stoff, dessen Botschaft meist irgendein regionaler Verweis ist. Da gibt es die berühmte Halle/S.-Fahne, es gibt „Spenge“ und „Air Bäron“, „Greven“, „Rogätz“ und die aus dem Erzgebirge stammende „Thalheim“-Fahne. Dazu „Selters“, „Leiha“ und „Rügen“ - und eben Stefan Oberfranz’ schwarz-rot-goldenes Union Sandersdorf-Banner mit der weißen Aufschrift „Obi“.
Im EM-Eröffnungsspiel hing Sachsen-Anhalts Gruß an die Fußballwelt nahe der Eckfahne neben einem Banner von Dynamo Dresden. Im Spiel der deutschen Mannschaft gegen Polen war die Fahne dann zentral hinter dem Tor zu sehen. 23 Spielbesuche plant Oberfranz beim EM-Turnier in Frankreich, verglichen mit früheren Fußball-Ausflügen eher ein gemäßigtes Programm. „2010 zur WM in Südafrika waren es 33 Spiele, 2012 zur EM 19 und 2014 zur WM in Brasilien 24“, rechnet er vor. Der Ablauf ist immer derselbe: Jeden Tag mindestens ein Spiel, die Nächte werden durchgefahren auf dem Weg zum nächsten Spielort.
Oberfranz, der bis zur A-Jugend selbst Fußball gespielt hat, nennt es trotzdem Urlaub. „Angefangen habe ich als Groundhopper“, beschreibt er, „mein erstes Deutschland-Spiel war 2004 bei der Europameisterschaft in Portugal gegen die Niederlande.“ Ein Start in dunklen Zeiten: Die deutsche Elf scheidet damals schon in der Vorrunde aus, weil Rudi Völlers Team mit Ballack, Nowotny und Kahn das letzte Vorrundenspiel gegen eine tschechische B-Elf verliert.
Stefan Oberfranz aber, schon als Achtjähriger Zeuge des Fußballgeschichte schreibenden 6:5-Sieges von Lok Leipzig über Girondins Bordeaux im Pokal der Pokalsieger, ist infiziert. „Ich habe immer mehr von den Jungs kennengelernt, die der Mannschaft mit ihren Fahnen folgen, und das hat mich gereizt.“ Der deutsche Fußball liegt in jenen Jahren am Boden, es sind nur wenige Fans und noch weniger Zaunfahnen, die das deutsche Team begleiten. Borsti ist dabei, der BVB-Fan, der eigentlich Fabian heißt. Auch die Halle/S.-Fahne der Exil-Hallenser Steffen Melzer und Tobias Möhring, die im Fußball-Alltag Anhänger von Union Berlin sind. Und das Banner mit der Aufschrift „Dudenhofen“ hängt an der Bande, möglichst in Kamerablickrichtung, möglichst immer auf Ballhöhe.
Für Stefan Oberfranz ist es eine neue, faszinierende Welt. Einerseits trifft man sich im kleinen Klub der Eingeweihten immer wieder. Anderseits sieht man fremde Länder, begegnet fremden Fankulturen und „kann das Vaterland unterstützen“, wie Oberfranz meint.
Mit den Fahnen kommt auch der Erfolg der deutschen Fußball-Farben zurück, so sieht es zumindest im Nachhinein aus. Hängen Anfang des Jahrtausends nur ein Dutzend Banner am Zaun, sind es heute manchmal Hunderte.
Berühmt durch Elfmeterkrimi
Der Platz wird eng. Vor allem die Stellen im Stadion, an denen die eigene Fahne weltweit gesehen wird, sind begehrt, seit es die Jungs von Halle/S. mit Glück und Instinkt sogar ins Kino schafften. Als Torwart Jens Lehmann im Viertelfinale der Heim-WM 2006 mit dem Zettel im Handschuh den Sieg gegen Argentinien festhält, ist die Halle/S.-Fahne bei jedem Elfmeter im Bild. Und durch den Dokumentar-Film „Ein Sommermärchen“ wird die Szene unsterblich.
Stefan Oberfranz, seit 2010 mit der Fahne dabei, die er heute noch aufzieht, ist ein alter Hase, der genau weiß, wie das Spielchen läuft. „Natürlich gibt es eine Hierarchie“, erklärt er die Verhältnisse innerhalb der Fahnen-Familie, „da spielt das Dienstalter eine Rolle, aber auch Beziehungen.“ Mehr muss die Welt nicht wissen aus dem Innersten der Baumwoll-Botschafter.
Deren Sektion Mitteldeutschland, organisiert im DFB-Fanclub Nationalmannschaft, reist meist zusammen und hängt gemeinsam. Auch Stefan Oberfranz ist Mitglied, obwohl er als Fahnenträger lieber solo unterwegs ist. „Aber bei Turnieren klinke ich mich manchmal in kulturelle Aktivitäten ein.“ Die Zaunkönige halten zusammen. Geht es um ein Länderspiel, dann spielen Rivalitäten zwischen Anhängern unterschiedlicher Klubs keine Rolle. Oberfranz etwa ist Bayern-Sympathisant, wie er sagt, die Jungs von Halle/S. sind Unioner, der Fahnennachbar zur EM-Eröffnung war aus Dresden . . . Internationale Freundschaften dagegen gibt es nicht. „Warum sollten wir auch mit den Engländern gemeinsame Sache machen?“
Es ist so schon schwer genug, immer seinen Platz zu finden. Stefan Oberfranz ist manchmal schon morgens um zehn im Stadion, als Allesfahrer hat er inzwischen Freunde und Bekannte, die hier mal einen Tipp geben und dort ein Türchen für die Treuesten der Treuen öffnen können.
Enttäuschung in Brasilien
Nützt nur alles nichts, wenn die große Fußball-Kommerzmaschine nicht mitspielt wie zuletzt beim WM-Turnier in Brasilien. Dort hatte der Weltfußballverband Fifa den Fahnenträgern aller Länder den Krieg erklärt. Zaunfahnen wurden verboten, Ordner gingen sogar handgreiflich gegen die traditionellen „Insignien lebendiger Fankultur“ vor, wie sie das Fußballmagazin „11 Freunde“ nennt. Die damalige Führungsclique um Sepp Blatter übersetzte das WM-Motto „All in one Rhythm“ mit „alles im Gleichschritt“ und sorgte so dafür, dass die Atmosphäre früherer Weltmeisterschaften sich in die eines Reinstraumes ohne störende Nebengeräusche verwandelte.
„Der Fifa gehen Sponsoren über alles“, analysiert Stefan Oberfranz die schwärzesten Stunden der Zaunfahnen-Zunft. Damals haben die Jungs von der Fahnenfront befürchtet, „dass es das war mit Fahnenaktionen“. Die EM in Frankreich konnte nur noch mehr Eventisierung und noch mehr Oberfläche bringen, die sich für noch mehr Vermarktung eignet.
Doch dann ist alles anders gekommen. Ohne den „Kackhaufen Fifa“ (Oberfranz) empfing das vom europäischen Verband Uefa organisierte Turnier die Fahnenfans wie Freunde. „Das hatten wir überhaupt nicht erwartet“, schildert Stefan Oberfrantz. Normal sei das Aufhängen hinter den Toren immer erlaubt, in Frankreich aber sage nicht einmal jemand etwas, „wenn man die Fahne an die Gegengerade hängt wie ich im Eröffnungsspiel“. Was immer auf dem Feld passiert, die Fahne ist zu sehen. Obi weltweit. Ein Gottesgeschenk.
In solchen Momenten haben sich alle Mühen gelohnt und die langfristige Planung macht sich bezahlt. Ein Jahr vor dem Turnier beginnt Stefan Oberfranz in der Regel mit der Feinjustierung. „Dann sind die Flüge buchbar und Karten bestellbar.“ Oberfranz macht alle Kartenverlosungen mit, er tauscht Tickets und versucht, über Bekannte beim DFB an fehlende Eintrittskarten heranzukommen.
Parallel läuft die Urlaubsplanung an: „Alle zwei Jahre vier Wochen Jahresurlaub zum Turnier - ich muss ja immer einplanen, dass wir ins Finale kommen“, berichtet der 37-Jährige. Zwischendurch immer mal ein, zwei Tage Urlaub zu den Auswärtsspielen der Löw-Truppe. Und Überstundenabbau und Dienstplan immer so legen, dass alle Heimspiele besucht werden können. Oberfranz’ Freundin akzeptiert es, „sie hat mich ja so kennengelernt“, schmunzelt er. Und die Kosten? All die Karten, die Fahrten, die Flugtickets? „Geld zähle ich nicht“, sagt Obi, „Fußball ist mein Hobby, so wie andere Briefmarken sammeln.“
Letztes Saisonspiel verpasst
Manche Leute daheim in Sandersdorf haben ihm anfangs einen Vogel wegen seiner Fahnenmacke gezeigt. „Aber die suchen jetzt auch bei jedem Spiel nach der Fahne.“ Seine Freunde ohnehin. „Die akzeptieren, verstehen und bewundern es.“ Und das, obwohl Union Sandersdorf-Edelfan Oberfranz das letzte Saisonspiel der Oberligakicker ausnahmsweise sausen lassen musste. Da war er schon los zur Europameisterschaft. Wenn alles gut geht, kommt er vor dem Endspiel am 10. Juli auch nicht zurück.
(mz)

