Dienstältester Apotheker hängt seinen Kittel an berühmten Haken
SANDERSDORF/MZ. - "Als Angestellter", betont er, denn die Leitung der Apotheke übernimmt zukünftig ein von ihm ausgebildeter Fachapotheker.
Vor 78 Jahren hatte der Vater des 80-Jährigen das Haus in der Hauptstraße gebaut. "Es war zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise", erinnert sich Glaß heute. Benannt wurde die Apotheke nach Marie Glaß, seiner Mutter. Schon als kleiner Junge hatte Ernst-Günter Glaß mit dem Apothekerhandwerk zu tun. Er half seinem Vater und wuchs mit dem Geschäft auf. Dann kam der Krieg und mit ihm die Veränderungen.
Glaß wurde mit 15 Jahren Luftwaffenhelfer in Bitterfeld und ein Jahr später, im Januar 1944, stand er als junger Soldat an der Front. Erinnerungen an die Kämpfe in der Eifel, an eine Landehemmung, die sein Leben rettete und endlich die Heimkehr im März 1945 sind immer gegenwärtig. "Ich könnte ein Buch über mein Leben schreiben, soviel ist passiert", findet Glaß.
Zwei Tage vor dem Geburtstag seines Vaters kehrt der damals 17.-Jährige wieder nach Sandersdorf zurück. Er erlebte die Plünderungen der Apotheke, den Wiederaufbau und machte schließlich sein Abitur. Nach dem Studium der Pharmazie zwingt ihn der Tod des Vaters, die kommissarische Leitung der Marien-Apotheke zu übernehmen. "Ich war mit 23 Jahren der jüngste Apothekenleiter des Landes", erinnert sich Glaß.
Zahlen und Daten vergisst er nicht. Es ist ihm wichtig, geistig fit zu bleiben. Dabei helfen die Gespräche mit Kunden und Angestellten, er liest Fachliteratur, recherchiert im Internet und macht die Buchführung am Computer. Und manchmal erzählt er über Ereignisse, die Jahre zurück liegen und die sein Leben geprägt haben. So half er 1953 Paul Othma bei der Flucht. Dieser war maßgeblich am Streik des 17. Juni 1953 in Bitterfeld beteiligt. "Wir gerieten in eine Polizeikontrolle und Othma sagte aus, dass er als Anhalter zufällig in mein Auto gestiegen sei", so Glaß. Durch diese Aussage blieb ihm das Gefängnis erspart.
1959 heirate Glaß. Er wurde Vater und merkte schnell, dass ihn die Arbeit in der Apotheke nicht ausfüllte. So übernahm er weitere Ämter und wurde stellvertretender Vorsitzender im Versorgungsausschuss und Beratungsapotheker im Bezirk Halle. Mitte der 70er Jahre baute er Arzneimittelausgabestellen in Sandersdorf-Nord und Ramsin auf. "Damals herrschte ein allgemeiner Mangel an Arzneimitteln. Insgesamt gab er nur rund 2000." Die Belieferung der Apotheken erfolgte nicht einmal wöchentlich.
Mit der Wende änderte sich Vieles: Die Treuhandanstalt entsprach dem Antrag auf Rückgabe der Apotheke, der Mangel an Arzneimitteln machte einem breiten Sortiment Platz und die Lieferungen kamen mehrmals täglich. "Inzwischen gab es über 150 000 Arzneimittel und wir mussten unser Lager umbauen", blickt Glaß zurück. Dabei wurde er tatkräftig von seiner Frau unterstützt. Sie hatte die Idee, zahlreiche Schubfächer für die hohe Anzahl an Medikamenten zu bauen. Und noch heute denkt Glaß an seine Frau, wenn er eines der langen Fächer heraus zieht. Heute sagt er: "Meine Frau war für die Schönheit in diesem Haus zuständig und ich für die Technik." 49 Jahre waren beide verheiratet, gekannt hatten sie sich schon als Kinder. Vor vier Monaten starb sie nach langer Krankheit. Es war eine schwere Zeit für den Apotheker.
Neben den baulichen Veränderungen sind einige Dinge beim Alten geblieben. So werden trotz industrieller Herstellung viele Arzneimittel selbst hergestellt. "Ich habe sehr viele Leute ausgebildet und denen muss man auch etwas zeigen können", bringt es Glaß auf den Punkt. Über 50 Fachkräfte hat er in den Jahren ausgebildet. Mit 80 sei es Zeit, Platz zu machen und doch blickt er nach vorn. Mit seinem Sohn besucht er die Fußballspiele von Union Sandersdorf, die Renovierung des Hauses will er bald in Angriff nehmen und Zeit will er sich auch für die Enkel nehmen. Und seiner Apotheke wird er treu bleiben.