Der Schillernde Aufklärer Der Schillernde Aufklärer: Peter-Michael Diestel erzählt in Wolfen vom letzten Kapitel der DDR

Wolfen - Die Zeit drängt, fand Peter-Michael Diestel. Die Jubiläen zu Mauerfall und Deutscher Einheit näherten sich. „Doch es wird viel Blödsinn über die Deutsche Einheit geschrieben, ohne Verstand und Gefühl.“ Dem musste man etwas entgegensetzen. Und wer könnte das besser als er? Diestel, letzter DDR-Innenminister.
„Ich war ja immer und überall dabei“, erklärt er Freitag dem Publikum im vollen Campus-Hörsaal Wolfen. Und so schrieb Diestel - der sozial unabhängig sei nicht durch seine Anwalt-Arbeit, sondern „durch mein Talent“ - sein Rückblicksbuch mit dem provokant wirkenden Titel „In der DDR war ich glücklich. Trotzdem kämpfe ich für die Einheit.“ Es wird ein Erfolg, steht seit Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste, wie Diestel betont.
Doch ist er nicht für eine Lesung nach Wolfen gekommen. Das lockere Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Paul Werner Wagner bietet ihm viel mehr Möglichkeiten, sich mit Anekdoten, Andeutungen und Attacken als schillernd-kritischer Aufklärer zu geben.
„Die weichgespülten Leute aus der Ost-CDU, der LDPD und der Bauernpartei“ zogen in den Bundestag
Dass beide befreundet sind, mache es ihm viel angenehmer. Leider beschränkt sich dadurch Wagner auf die Rolle des Stichwortgebers, statt Widerpart für ein erhellendes Gespräch über eine spannende Zeit zu sein. Schließlich kämpfte Wagner damals als Mitglied des Demokratischen Aufbruchs für eine reformierte DDR, während DSU-Generalsekretär Diestel „von Beginn an für die Einheit“ eintrat.
Als er nach dem unerwarteten Wahlsieg im März ’89 Innenminister und „quasi die Nummer 1“ im Staate wurde, weil Ministerpräsident de Maizière wegen Stasivorwürfen „gar nicht handeln konnte“, kam er sich wie Thomas Manns Hochstapler Felix Krull vor. „Bis ich gemerkt habe: Die anderen sind genauso dumm wie du.“
Aber man habe sich in dieser Übergangszeit in der Pflicht für das Land gesehen und kehrte danach zurück in sein Leben. Ein Fehler? Diestel verhehlt seinen Unmut über das, was folgte, nicht. „Die weichgespülten Leute aus der Ost-CDU, der LDPD und der Bauernpartei“ zogen in den Bundestag und „trafen falsche Entscheidungen zum Beispiel bei der Eigentumsfrage“. Und zu den Stasi-Akten.
Peter-Michael Diestel verteidigt sein kritisiertes Verhalten gegenüber Stasi-Offizieren und bewaffneten Organen
Die bleiben Diestels Hauptthema. Er verteidigt sein kritisiertes Verhalten gegenüber Stasi-Offizieren und bewaffneten Organen. „Gegen eine Million Sicherheitsangehörigen hätten wir nie putschen können. Wir mussten mit ihnen in die Einheit gehen und ihnen einen Platz zusichern.“ Das habe auch Kohl so gesehen, aber nach dem 3. Oktober 1990 vergessen. „Plötzlich gab es Sieger und Verlierer. Den zugesicherten Platz haben sie nie gefunden. Das ist säuisch und ungerecht.“
Und wieso wollte er die Öffnung der Stasiakten verhindern? „Weil die Stasi ein halbes Jahr Zeit hatte, wichtige Unterlagen verschwinden zu lassen.“ Übrig blieben Akten von kleineren Leuten. So habe die Stasi entschieden, wer in Deutschland überleben darf und wer nicht.
Gauck habe das gewusst und dennoch die Leitung „dieser furchtbaren Behörde übernommen“. Doch wieso bleiben Stasi-Spitzel aus dem Westen ungeschoren, will ein Besucher wissen. Diestel bestätigt, die Namen vieler westdeutscher Politiker zu kennen, die Ost-Agenten waren. „Wären die bekannt geworden, hätte es keine Vereinigung gegeben.“ Hier blitzt es wieder auf - Diestels Selbstbild als Eingeweihter und Durchblicker, dessen Kritik aber bei vielen ankommt, weil sie punktuell deren Erfahrungen und Vermutungen bestätigt. Er springt wortgewandt von Beispiel zu Beispiel, bis Wagner ihn wieder einfängt.
Man müsse den Menschen ihre Würde wiedergeben und mit ihrer Geschichte leben lassen
Den Beitritt vergleicht Diestel mit dem Einzug in ein fertiges Haus, wo gleich am Eingang die Hausordnung hängt. Man kappe die Wurzeln der Ostdeutschen. „Diese furchtbare Geschichtsbetrachtung muss sich ändern.“ Zudem werde die DDR auf die Stasi reduziert. „Doch die hat nur getan, was die SED gesagt hat.“
Man müsse den Menschen ihre Würde wiedergeben und mit ihrer Geschichte leben lassen. „Wir haben die Mauer eingestürzt, wir haben gewonnen. Aber wir haben uns den Sieg wegnehmen lassen.“ Heute fehle die politische Führung. „Es gibt keine Persönlichkeiten mehr, die uns was sagen können.“ Man brauche wieder elitäre Politiker. Aber nicht die AfD. „Wir müssen uns einmischen und dürfen das Feld nicht den Dummen überlassen.“ Das kommt an - der Andrang beim Buch-Signieren danach ist groß. (mz)