Bäckermeister im Ruhestand
Bitterfeld/MZ. - "Sonnabends standen Leute vom CKB schon vor der Tür, bevor wir aufgemacht haben", berichtet Gertraud Nieratka. Und sie wundert sich noch immer darüber, dass die Kunden das Gebäck nur vom Blech haben wollten. Sobald es in Tüten verpackt war, um im Laden Zeit zu sparen, ist es liegen geblieben - obwohl es dasselbe Gebäck wie auf dem Blech war.
Die Renner in der Bäckerei, die es bis 1990 gab, waren jedoch die Pflaumen-, Kirsch- und Rhabarberkuchen. Weil die Obst-Zuteilung von der Genossenschaft vorn und hinten nicht reichte, kauften sie es auch von Kleingärtnern auf und fuhren mit ihrem Trabant-Kombi über Land, um es im Harz und andernorts zu pflücken. "1988 haben wir 25 Zentner Pflaumen in Gläser gefüllt und eingeweckt oder in der Truhe eingefroren." Die Bäckerei war immer eng mit dem Geschehen im CKB verbunden. Nicht nur, dass sie für die schwere Arbeit in der Bäckerei keine Leute bekommen haben, weil die lieber ins CKB gegangen sind. Die Nieratkas versuchten trotzdem, sich neuen Kundenwünschen anzupassen, auch wenn das zu DDR-Zeiten gar nicht so leicht war. "Es dauerte ein Vierteljahr, bis Kommissionen und Rat des Kreises ein neues Rezept genehmigt hatten", berichtet Gertraud Nieratka.
Sie erzählt von den Ungarn, die das Kraftwerk gebaut haben. Weißbrot sei da gefragt gewesen. Weil sich die Monteure ihre Bestellungen hintenrum abholten, gab es einmal solchen Ärger, dass die Polizei gerufen werden musste. Mit dem altdeutschen Backofen hat eine der schwersten Entscheidungen von Rudi Nieratka zu tun: Ein neuer Backofen oder ein Wartburg-Tourist. Er entschied sich für den Ofen.
An solche Episoden aus dem gemeinsamen Berufs- und Privatleben erinnern sich die Nieratkas dieser Tage aus zwei Anlässen häufiger als sonst: Vor 50 Jahren ist der 72-Jährige Bäckermeister geworden, zum anderen steht in diesem Jahr die goldene Hochzeit ins Haus. Die zu ihrem Ehejubiläum geplante Mittelmeerreise mit der "Mona Lisa" haben sie schon unternommen.
Zu seinem Beruf ist Rudi Nieratka zufällig gekommen. Als Umsiedler aus Schlesien war er mit seiner Mutter 1945 dort geblieben, wo es etwas zu essen gab: In einem kleinen Dorf im Süden von Brandenburg. Obwohl er Schuhmacher oder Sattler werden wollte, ging der 14-Jährige zu einem Bäcker in Schlieben, der einen Lehrling suchte. Obwohl er kaum eine Vorstellung von dem Handwerk hatte, fand er doch Gefallen daran. An das zeitige Aufstehen hat er sich gewöhnt, gleich nach 20 Uhr ist er im Bett verschwunden, um 3.30 Uhr wieder auf den Beinen zu sein. Als mittags in der Backstube alles fertig war, war der Arbeitstag aber lange nicht zu Ende. Nachmittags ging es oft aufs Feld, im Winter waren nicht selten 20 Paar Schuhe vor dem Ofen in der Backstube zu putzen.
Sogar auf die Kinder musste er aufpassen. "Der Meister hatte immer was zu tun", sagt Rudi Nieratka, "und wenn es das Grün vor dem Haus war, das ich aus den Steinen kratzen musste." Er sei aber froh gewesen, untergekommen zu sein und zu essen gehabt zu haben. Auch wenn er nur zwei Mark pro Woche verdient hat, "ich war wenigstens kein Esser mehr zu Hause." Als sich nach dem zweiten Lehrjahr einer der drei Meister, den er aus seinem Heimatort in Schlesien kannte, in Holzweißig selbständig machte, ging Nieratka mit. Bei Johannes Rother hat er ausgelernt, blieb bis 1952 dort.
Es folgten sechs Jahre als Geselle bei Bäckermeister Schmiedecke in Bitterfeld. Dort hat er auch die Meisterprüfung abgelegt. Mit dem Ziel, eines Tages eine eigene Bäckerei zu haben. Seine Frau, eine gelernte Friseurin, bestärkte ihn darin. So pachteten sie 1958 die ziemlich heruntergekommene Bäckerei in der Zörbiger Straße. "Meine Vorgänger waren alle Pleite gegangen, das hat mich gereizt, ich wollte es schaffen", so Nieratka.
Es ist ihm gelungen, auch wenn am Ende nicht alle Wünsche in Erfüllung gegangen sind. Sohn Jochen, der in der Bitterfelder Konsumbäckerei gelernt und dort ebenfalls seinen Meisterabschluss gemacht hat, konnte den Betrieb der Eltern nicht wie erhofft übernehmen. Wegen einer Knieverletzung, die er sich bei der vormilitärischen Ausbildung zugezogen hatte, musste er seinen Beruf sogar ganz und gar aufgeben. 1990 war auch Rudi Nieratka gezwungen wegen einer Berufskrankheit, dem so genannten Bäckerasthma, aufzuhören. "Die Bäckerei zumachen zu müssen, tat uns sehr leid. Wir haben sehr daran gehangen", sagt Gertraud Nieratka.
Nun verbringen sie viel Zeit auf ihrer Datsche in Plodda. Dort gibt es, wie auf ihrem Grundstück in der Zörbiger Straße, immer etwas zu tun. Denn was man seit frühester Jugend gewohnt ist, kann man auch im Alter nicht lassen: "Wo ich hingucke, sehe ich Arbeit", so der Bäckermeister im Ruhestand.