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300.000 Bücher Antiquariat „Alte Schule“ - Buchdorf Mühlbeck sucht verzweifelt nach neuem Betreiber

Literaturfans, Büchersüchtige und Leseratten zieht es in Deutschlands erstes Buchdorf nach Mühlbeck-Friedersdorf. Doch die Antiquare haben 26 Jahre nach der Buchdorf-Gründung keine Nachfolger in Aussicht.

Von Sabrina Gorges (Text) und Klaus-Dietmar Gabbert (Fotos) 14.06.2023, 10:45
Myriam Gödicke sortiert in ihrem Antiquariat ein Buch in ein Bücherregal. In dem "Antiquariat Gödicke Alte Schule" sind über 300.000 Bücher zu finden, die in 35 Sachgebiete sortiert sind. Literaturfans, Büchersüchtige und Leseratten zieht es in Deutschlands erstes Buchdorf -  doch die Antiquare haben 26 Jahre nach der Gründung keine Nachfolger in Aussicht.
Myriam Gödicke sortiert in ihrem Antiquariat ein Buch in ein Bücherregal. In dem "Antiquariat Gödicke Alte Schule" sind über 300.000 Bücher zu finden, die in 35 Sachgebiete sortiert sind. Literaturfans, Büchersüchtige und Leseratten zieht es in Deutschlands erstes Buchdorf - doch die Antiquare haben 26 Jahre nach der Gründung keine Nachfolger in Aussicht. (Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa)

Muldestausee/DPA - Obwohl die späte Frühlingssonne kräftig durch die großen Fenster in die Räume der alten Grundschule scheint, knipst Myriam Gödicke nach dem Aufschließen die Deckenbeleuchtung an. „Sonst weiß ja keiner, dass ich da bin“, sagt sie mit einem Lächeln und hat sofort den ersten Bücherstapel in den Händen.

„Die Leute wissen: Wenn das Licht brennt, ist offen.“ Doppelt beleuchtet drängen sich auf zwei Etagen in meterlangen, deckenhohen Regalreihen Bücher, Schallplatten und DVDs dicht an dicht. Ein „geordneter Irrgarten“ aus gebrauchten Medien und ein Ort der Inspiration, Ruhe und Rast.

Schätzungsweise rund 300.000 Bücher aus zweiter Hand dürften es sein

Schätzungsweise rund 300.000 Bücher aus zweiter Hand dürften es sein, die im Antiquariat „Alte Schule“ in Deutschlands erstem Buchdorf Mühlbeck-Friedersdorf auf Literaturfans, Büchersüchtige, Leseratten und Sammler warten. Gödicke ist eine der beiden Antiquare. René Bär ist der zweite Buchhändler in der ehemaligen Schule, die auf dem schmucken Dorfplatz direkt neben der Kirche steht.

Muldestausee und Goitzschesee sind jeweils nur den sprichwörtlichen Steinwurf entfernt, ebenso der Naturpark Dübener Heide. Die früher von Braunkohle- und Chemieindustrie geprägte Region der grauen Tristesse rund um Bitterfeld-Wolfen hat sich längst hübsch gemacht.

Gründung des Buchdorfs Mühlbeck-Friedersdorf geht auf das Jahr 1997 zurück

Die Gründung des Buchdorfs Mühlbeck-Friedersdorf geht auf das Jahr 1997 zurück - zuvor wurde ein gleichnamiger Förderverein ins Leben gerufen. Heidemarie Dehne, eine gebürtige Rheinländerin und inzwischen über 80 Jahre alt, hatte die Idee dazu. Sie war inspiriert von der ersten Bücherstadt der Welt, Hay-on-Wye in Südwales (Großbritannien). Sie existiert seit 1961. Inzwischen soll es weltweit 30 Buchdörfer und -städte geben, in Deutschland nennen sich unter anderem auch Wünsdorf in Brandenburg und Langenberg in Nordrhein-Westfalen so.

 Bücherregale im «Antiquariat Gödicke Alte Schule». Das Gebäude war bis 1994 eine Schule.
Bücherregale im «Antiquariat Gödicke Alte Schule». Das Gebäude war bis 1994 eine Schule.
(Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa)

Bernd Hieronymus (parteilos) ist seit 1994 Mühlbecks Bürgermeister und hat Dehnes Idee seinerzeit mit viel Fingerspitzengefühl in den Hauptausschuss des Gemeinderats getragen. Getreu dem Motto „Wir können es doch mal versuchen“, fand er Befürworter. „Ich hatte damals auch einen Zeitungsartikel über die Stadt in Wales dabei“, sagt der 75-Jährige. „Zum besseren Verständnis.“ Ihm sei es persönlich auch darum gegangen, den Leerstand in der seit 1994 geschlossenen Schule zu beenden und etwas für den Tourismus zu tun. Später wird es auch in der Schmiede, im Gasthof und im alten Dorfkonsum Antiquariate geben.

Im Expo-Sommer 2000 waren wir Gastgeber des zweiten Internationalen Buchdorf-Festivals

Bernd Hieronymus (parteilos) ist seit 1994 Mühlbecks Bürgermeister

Hieronymus sagt, damals seien „Glück und Zufall“ zusammengekommen. „Wir wussten 1997 schon, dass wir Korrespondenzregion für die Expo 2000 in Hannover werden. Das hat alles beflügelt, plötzlich waren Förderprogramme und viel Geld da.“ Und auch diese gut gefüllten Fördertöpfe helfen dem Ortsoberhaupt zufolge, die Buchdorf-Idee wahr werden zu lassen.

„Im Expo-Sommer 2000 waren wir Gastgeber des zweiten Internationalen Buchdorf-Festivals“, sagt Hieronymus. Mühlbeck, zu dieser Zeit noch selbstständige Gemeinde in einer Verwaltungsgemeinschaft, begrüßte vom 7. bis 9. Juli 2000 mehr als 7.000 Menschen aus ganz Europa. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ berichtet unter dem Titel „Die Büchernarren“ groß über die Veranstaltung.

Der Buchdorf-Idee fehlen längst die Betriebsnachfolger

Für Hay-on-Wye listet die eigene Website aktuell 13 ständige Antiquariate in der walisischen Kleinstadt auf - so viele waren es in Mühlbeck-Friedersdorf in der Spitze auch mal. Heute, 26 Jahre nach der feierlichen Ausrufung von Deutschlands erstem Buchdorf, gibt es in Friedersdorf gar keine Anlaufstelle mehr. Im 1000-Seelen-Dorf Mühlbeck, heute Teil der Einheitsgemeinde Muldestausee, sind die „Alte Schule“ und das temporär geöffnete Fachantiquariat für Luftfahrt von Herbert John im alten Pfarrhaus geblieben. „Wir waren nie wie Hay-on-Wye“, sagt Gödicke. „Wir waren einfach anders.“

 «Bücher com sum» steht auf einem Schild an der Fassade eines Buchladens.
«Bücher com sum» steht auf einem Schild an der Fassade eines Buchladens.
(Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa)

Der Buchdorf-Idee fehlen längst die Betriebsnachfolger, also junge Menschen, die weiter eine bibliophil interessierte Kundschaft aus nah und fern glücklich machen wollen. „Man muss es sich trauen“, sagt Gödicke, die schon mit zwölf Jahren Tolstoi und Zola gelesen hat und so etwas wie eine Überzeugungstäterin ist. „Reich wird man nicht. Man muss viel kämpfen.“ Seit März ist die Diplom-Bauingenieurin Rentnerin und entspannter als früher. Ihre Bücher will die 66-Jährige auch im altersbedingten Ruhestand weiter regelmäßig um sich haben.

Der Buchdorf-Idee fehlen längst die Betriebsnachfolger

Myriam Gödicke

Im Schulgebäude haben sich über die Jahre fünf Klassenräume, das Lehrerzimmer und alle Flure mit Literatur gefüllt - mit Sach- und Fachbüchern, vergilbten Comics, Groschenromanen, Trivialliteratur und begehrten Raritäten mit hohem Sammlerwert. „35 Kategorien“, ruft Gödicke aus einer Ecke im Raum, in der sie Bücher in ein Regal einsortiert. Sie ist vor lauter Büchern nicht zu sehen, nur zu hören. „Aber teils habe ich die auch in Kartons. Die Kategorie 'Ackerbau und Viehzucht' zum Beispiel lohnt sich draußen nicht.“ Besondere Bücher, auch klitzeklein und kaum größer als eine Streichholzschachtel, sind in Glasvitrinen unter Verschluss. Sicher ist sicher.

Wer wann in die „Alte Schule“ kommt, ist immer anders. Der Buchdorf-Idee fehlen längst die Betriebsnachfolger, sagt Gödicke. „Und manchmal stöbern sie stundenlang herum wie in einem Museum und gehen mit leeren Händen - um dann später mit einem großen Karton zum Füllen wiederzukommen.“ Gödicke hat sich 2004 entschlossen, ihr Leben alter und gebrauchter Literatur zu widmen. „Das war ein harter Schnitt“, sagt die zweifache Mutter. „Aber es war auch ein Befreiungsschlag.“ Sie bedauert, dass der am 22. April 1997 von 34 Frauen und Männern gegründete Förderverein Buchdorf Mühlbeck-Friedersdorf im Jahr 2018 aufgelöst werden musste. „Ich war Gründungsmitglied, aber wir sind am Ende einfach überaltert gewesen.“

Oft nachgefragt werden seltene literarische Werke aus DDR-Zeiten

Ohne den Verein, sagt die Antiquarin, hätte es das Buchdorf nie gegeben. Er hat vor 26 Jahren ein Grundsortiment von rund 70.000 Büchern beschafft, und die Buchhändler der ersten Stunde haben vom Verein gekauft, was sie brauchten. „Es gab damals einen Sortierraum, der war erste Anlaufstelle.“ Seit der Vereinsauflösung obliegt die Beschaffung neuer Ware den Händlerinnen und Händlern selbst. „Fast alles kommt von privat“, sagt Gödicke, die in Mühlbeck geboren ist.

Das «Antiquariat Gödicke Alte Schule». Das Gebäude war bis 1994 eine Schule.
Das «Antiquariat Gödicke Alte Schule». Das Gebäude war bis 1994 eine Schule.
(Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa)

Sie hat für alte Bücher einen Riecher, merkt nach eigener Aussage sofort, wenn ein Buch selten ist. „Ich recherchiere dann auch auf bestimmten Plattformen im Internet.“ Über ausgefallene Wünsche von Kunden führt die 66-Jährige eine sehr, sehr lange Suchliste. Oft nachgefragt werden demnach seltene literarische Werke aus DDR-Zeiten, etwa das als utopisch und obskur geltende Buch „Das Orakel der Delfine“ von Wolf Weitbrecht oder das Kinderbuch „Die silberne Brücke“ von Hertha Vogel-Voll. Gödicke sagt: „Seltene DDR-Bücher als Originalausgaben kann ich nicht genug ranschaffen.“

Anfängliche Zauber zwischen den Buchdeckeln in Mühlbeck ist fast verflogen

Was die Bücher kosten, schreibt Gödicke in ihrer ganz eigenen Art mit Bleistift oben in die rechte Ecke des sogenannten Schmutztitels, der leeren ersten Innenseite. Ausnahmslos. Ihr aktuell höchster Preis entfällt mit 900 Euro auf den fünfteiligen Band „Das Leben des Menschen“ von Fritz Kahn. Mehr als 100 Jahre alt und laut Untertitel „Eine volkstümliche Anatomie, Biologie, Physiologie und Entwicklungsgeschichte des Menschen“. Auch Koch- und Kinderbücher, Krimis, Kunstbände, Romane aller Genres, Sammlerschallplatten und sogar das „Adreßbuch für den Kreis Bitterfeld“ von 1925 finden sich in Gödickes Antiquariat.

Dass der anfängliche Zauber zwischen den Buchdeckeln in Mühlbeck fast verflogen ist, sei der Lauf der Dinge, sagt Gödicke. „Aber so lange die anderen und ich können, machen wir mit Herz und Leidenschaft weiter.“ Der Ortsbürgermeister wünscht sich junge Engagierte, die für das Buchdorf stehen und es wiederbeleben. „Vor allem für den alten Bücherkonsum und das Büchercafé von Frau Dehne wünsche ich mir jemanden, der kommt und weitermacht“, sagt Hieronymus. Dehnes Antiquariat, das Café Kaffeesatz und die Ferienwohnungen sind derzeit geschlossen - aus Altersgründen.