"Bleibt nicht allein zu Hause" Thomas Rettig Radio Depressione warnt vor Zunahme psychischer Erkrankungen im Corona-Lockdown: "Geht raus trefft euch zu zweit"

Bernburg - „Geht raus. Trefft euch zu zweit, wenn es nicht anders erlaubt ist. Aber bleibt nicht allein zu Hause.“ Thomas Rettig mahnt, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht verzweifeln, wenn ihre vertrauten Gesprächspartner durch den erneuten Lockdown wegen Corona wegbrechen.
Zwar seien Therapiegespräche weiterhin möglich. Doch die Räume, die für Selbsthilfegruppen oft genutzt wurden, fallen meist unter die Regeln, die vor Coronainfektionen schützen sollen. „Es kann sich niemand, der es nicht aus eigener Erfahrung kennt, vorstellen, was so ein Einschnitt für psychisch Erkrankte bedeutet“, so Rettig.
„Es gibt keine Wertigkeiten bei Opfern von Krankheiten“
„Es gibt keine unterschiedlichen Wertigkeiten bei Opfern von Krankheiten. Derzeit habe ich den Eindruck, dass Menschen, die sterben, weil bei ihnen das Corona-Virus festgestellt wurde, einen anderen Stellenwert haben als Opfer mit anderen Krankheiten.“
Das hatte Rettig, der als Gesundheitsbegleiter für psychisch Erkrankte ehrenamtlich arbeitet und auch sich als Moderator der Sendung „Radio Depressione“ einen Namen gemacht hat, in einem Gespräch mit der MZ Ende März erklärt.
Heute, so sagt der 51-Jährige, der nach einem Zusammenbruch 2009 selbst an Depressionen leidet, habe sich nichts in der Wahrnehmung durch die Regierung geändert. Da sieht er keine Strategie. „Immer nur alles zuzumachen, ist keine Lösung. Das ist die Unfähigkeit, eine Lösung zu finden, die nicht gänzlich zulasten anderer geht“, so Rettig.
Die Lähmung der Öffentlichkeit schwindet langsam, findet Rettig
Nur langsam löse sich die Lähmung auch in der Öffentlichkeit. „Die Berichterstattung ist nicht mehr so einseitig. Es wird schon, im Vergleich zum ersten Lockdown auch darauf hingewiesen, dass es durch die Maßnahmen an anderer Stelle Opfer gibt, die nicht so im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen.
Das sind seelisch Erkrankte. Das Thema ist noch immer für viele ein Tabu. Darum kommt das bei den Regierungen nicht an“, ist Rettig wütend. Er ist gut vernetzt mit namhaften bundesweiten Verbänden und Vereinen, die sich dem Thema Depression oder seelischer Erkrankungen widmen.
Zudem ist er Mitglied im Landespsychiatrieausschuss und der Besuchskommission. Der Ausschuss sieht sich für Angelegenheiten der psychiatrischen Krankenversorgung des Landes Sachsen-Anhalt zuständig. Rechtsgrundlagen für die Berufung des Psychiatrieausschusses und seine Arbeit bilden das Gesetz über Hilfen für psychisch Kranke und Schutzmaßnahmen des Landes Sachsen-Anhalt.
Die Mitglieder des Ausschusses und ihre Vertreter werden vom Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration für je vier Jahre in ihr Amt berufen. Rettig ist als Betroffener im Ausschuss, hat somit auch mit seiner Meinung Einfluss.
Doch, so sagt er, habe er den Eindruck, in Sachen Corona sei der Blick von den Verantwortlichen in den Regierungen sehr einseitig auf die Höhe der Infektionszahlen ausgerichtet. „Das bereitet mir ziemliche Probleme: Wenn aus Panik heraus festgelegt wird, wer mehr zu bedauern ist“, bleibt Rettig bei seiner schon einmal getroffenen Einschätzung.
Er werde oft in die Ecke eines Corona-Leugners gedrängt, sagt Rettig
Sachliche Informationen würden nicht nur in eine Richtung helfen. Wenn er Fragen stellt und aufmerksam macht, was für Folgen so eine strikte Haltung auf andere hat, die nicht im Fokus der Gesellschaft stehen, werde er oft in die Ecke eines Corona-Leugners gedrängt.
Das zeigt schon die Gefährlichkeit: Ausgrenzung von denen, die sich nicht der öffentlichen Meinung beugen, so sie es denn überhaupt ist. „Ein Freund von mir ist Intensivmediziner in der Schweiz. Er hat mir die Schrecken aufgezeigt, die das Virus in einer Lunge anrichten kann. Da gibt es nichts zu verharmlosen, wenn jemand betroffen ist.
Doch die Fälle, die so ein Bild aufweisen, sind meinem Freund zufolge, der 30 Jahre den Job macht, sehr wenige. Aus diesen Erkenntnissen sollten Schlussfolgerungen gezogen und nicht einfach eine ganze Gesellschaft in Schrecken versetzt werden“, so Rettig.
„Es ist nachgewiesen, wie sehr Menschen leiden, die psychisch krank sind, wenn sie aus ihrem gewohnten Lebensumfeld gerissen werden. Das geht bis zu körperlichen Schäden und bis zum Suizid“, weiß Rettig, der bereits Freunde durch die Entscheidung zum Suizid verloren hat.
Es gehe nicht darum, dass man als unsensibel gilt, wenn man sich für eine andere Coronapolitik einsetze. „Niemand hat das Recht, dann zu sagen, ich nehme das in Kauf, auch wenn andere dadurch sterben. Das gilt dann wohl eher umgekehrt“, zeigt sich der Bernburger frustriert über die Ignoranz. (mz)