Mormonen-Tempel Mormonen-Tempel in Freiberg: Erster Bau ausgerechnet in der DDR

Freiberg/Bernburg - Von Bernburg an der Saale nach Freiberg im Erzgebirge sind es rund 170 Kilometer, sagt der Routenplaner. Manfred Schütze kennt die Strecke aus dem Effeff. Zweimal pro Monat ist er sie gefahren, zweieinhalb Jahre lang, damals, Anfang der 1980er Jahre, als der Routenplaner noch Autoatlas hieß. Als Bernburg noch keinen Autobahnanschluss hatte und man sich bis Halle über die Dörfer quälen musste, während es heute bequem über die A 14 geht. Zweimal in der Woche ist Schütze nachmittags losgefahren und nachts zurück, nach der Baubesprechung. Es war nicht irgendein Neubau, den er mit betreute, der gar kein Bauexperte ist, sondern Lehrer für Deutsch und Russisch. Es war ein irres Projekt, das sie damals gestemmt haben, „ein Wunder“, sagt Schütze noch heute: In Freiberg haben die Mormonen, eine internationale Gemeinschaft strenggläubiger Christen, vor mehr als 30 Jahren ihren ersten Tempel auf deutschem Boden errichtet. Ausgerechnet in der DDR. Ausgerechnet im Land der Atheisten.
15 Millionen Anhänger weltweit beten in 150 Tempeln
Manfred Schütze aus Bernburg, ein freundlicher hochgewachsener Herr von 75 Jahren, erzählt diese Geschichte dieser Tage wieder gern. Gerade ist der Freiberger Tempel saniert und erweitert worden, am Sonntag wird er geweiht. Grund zum Feiern also, zum Erzählen von Geschichten und zum Öffnen von Türen: In den vergangenen Wochen stand das Haus zur Besichtigung offen, was höchst selten ist. Normalerweise haben nur ausgewählte Gemeindemitglieder Zutritt, mit Berechtigungsschein. Die Tempel sind die heiligsten Stätten der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“, wie die Mormonen sich selbst nennen. 15 Millionen Anhänger weltweit beten in 150 Tempeln. Nur zwei davon stehen in Deutschland.
Wer ist Manfred Schütze?
Manfred Schütze ist eine seriöse Erscheinung: Graue Anzughose, weißes Hemd, rote Krawatte, marineblaues Sakko. Der agile alte Herr wuselt über das Freigelände, zwischen Tempel und Gemeindehaus, zwischen üppigen Rabatten, sattgrünem Rasen und weißen Holzbänken. Ständig quäkt sein Walkie-Talkie, ständig will irgendjemand irgendetwas von ihm. Schütze ist hier der Koordinator, aber eigentlich ist er auch Gästebetreuer, und Seelsorger sowieso: Immer wieder fragt er Besucher, ob ihnen denn auch alles gezeigt worden sei.
Schütze hat sein Leben dem Herrn gewidmet, von Kindesbeinen an ist er in den Glauben hineingewachsen. In den 1970er Jahren hat er die Mormonen-Gemeinde in Bernburg geleitet, später den „Pfahl“ Leipzig, einen Zusammenschluss mehrerer Gemeinden. Er hat sich um die europäische Bildungsarbeit der Mormonen gekümmert und als Laien-Priester in Osteuropa gedient, alles ehrenamtlich.
Mormonen heiraten im Tempel
Seine Leitungsfunktionen brachten ihn an den Tisch, an dem Vertreter seiner Glaubensgemeinschaft Anfang der 1980er Jahre mit der Partei- und Staatsführung über den Freiberger Tempel-Neubau verhandelten. Mormonen heiraten im Tempel, sie können sich dort stellvertretend für verstorbene Angehörige taufen lassen, in ihrem Glauben ein höchst wichtiger Ritus. Dennoch dachten Schütze und Co. erst gar nicht an einen Neubau. „Uns ging es darum, dass unsere Gemeindemitglieder zum damals nächstgelegenen Tempel in die Schweiz reisen durften.“ Es ging dann eine Weile hin und her: Die Männer dürfen fahren, die Frauen nicht, sagte die DDR. Unmöglich, sagten die Mormonen, es geht ja ums Heiraten. Irgendwann, erinnert sich Schütze, kam ein überraschendes Angebot aus Ost-Berlin: „Der Staatssekretär für Kirchenfragen hat gefragt, warum wir denn nicht selber bauen.“
Für die DDR war es eine politische Entscheidung: Honecker wollte so die USA beeindrucken, wo die Gemeinschaft der Mormonen ihren Ursprung hat. Zudem musste der Staat nicht fürchten, dass reisende Mormonen im Westen bleiben. Und: Bezahlt wurde der Neubau mit Devisen - ein gutes Geschäft für die DDR. Zur Weihe 1985 ließ der Staat sogar Abgesandte der US-Mutterkirche ins Land.
Für die Mormonen war schnell klar, dass der Tempel in Sachsen gebaut werden sollte: So kirchenfern die DDR auch war, im Erzgebirge gab es schon immer mehr Fromme und Frömmler als anderswo in der kleinen Republik - pietistische Protestanten, Freikirchen, aber eben auch verhältnismäßig starke Mormonen-Gemeinden.
Zu Besuch im Freiberger Tempel
Heute strahlt der Freiberger Tempel weiß unter blauem Himmel; eine goldene Engelsfigur ziert den Turm, weithin sichtbar. Ein schönes Fotomotiv für die vielen Besucher. Im Innern des Allerheiligsten dagegen darf nicht fotografiert werden. Hinein geht es durch eine Doppeltür. Davor: Zwei junge Frauen, die Plastiküberzieher für die Schuhe reichen. Um den Fußboden zu schonen. Dahinter: dunkles Holz, dicke Teppiche, die jedes Geräusch dämpfen, Marmorböden, Blattgold. Mittendrin thront ein riesiges Taufbecken auf zwölf Ochsen-Figuren; sie symbolisieren die zwölf Stämme Israels.
Ob im Tempel oder im Gemeindehaus, in dem die Gottesdienste gefeiert werden: An jeder Ecke trifft man auf freundliche zuvorkommende junge Menschen, die Männer im Anzug, die Frauen in Kostüm oder Sommerkleid. Ihr strahlendes Lächeln lässt sie irgendwie beseelt erschienen. Aber vielleicht bildet man sich das auch nur ein.
Die Missionare sind das, junge Mormonen aus aller Welt, die von ihrer Glaubensgemeinschaft für zwei Jahre auf internationale Missionsreisen geschickt werden. Freiwillig sei dieser Dienst, betont Schütze, aber: „Wir sagen den jungen Leuten schon, das wäre gut für euch!“ Er sagt das mit einem Nachdruck aus, dass man denkt: Wäre man ein junges Gemeindemitglied, man würde nicht widersprechen. Schütze hat seine drei Kinder auch auf Mission geschickt: USA, Neuseeland, Litauen. In Freiberg helfen die Missionare als Besucherbetreuer aus, sie kommen aus Österreich, aus Guatemala oder aus den USA. Sie bringen die große Welt in die kleine Bergstadt.
Wichtig ist das „Buch Mormon“, eine Sammlung prophetischer Aufzeichnungen
Manfred Schütze betont gerne, wie wichtig den Mormonen Freiwilligkeit sei. Doch die Regeln sind streng. Alkohol und Tabak, Kaffee und schwarzer Tee sind tabu, ebenso wie Sex vor der Ehe. Gemeindemitglieder sollen zehn Prozent ihres Einkommens der Gemeinschaft spenden. Alles freiwillig, klar, doch wer zum Beispiel nichts abgibt, sagt Schütze, dürfe einen Tempel nicht betreten. Dazu müsse man, so die Mormonen, „im Einklang mit christlichen Grundsätzen leben“. Also nach ihren Regeln. Die beiden großen christlichen Amtskirchen erkennen die Mormonen nicht als christliche Kirche an.
Dabei glauben auch sie an die Bibel. Mindestens ebenso wichtig ist ihnen aber das „Buch Mormon“, eine Sammlung prophetischer Aufzeichnungen, die Kirchengründer Joseph Smith in den USA im 19. Jahrhundert angeblich von einem „himmlischen Boten“ erhalten haben soll. In einem Nebenraum des Freiberger Gemeindehauses liegt das Buch, grüner Kunstledereinband, Goldprägung, in zig Sprachen aus - von armenisch bis vietnamesisch: Die Freiberger sind vorbereitet auf internationalen Besuch.
Das Einzugsgebiet des Freiberger Tempels reicht bis nach Osteuropa - Polen, Tschechien, Moldawien, Rumänien, Ungarn. Dort wachsen die Gemeinden, deshalb die Erweiterung. In Ostdeutschland schrumpft die Glaubensgemeinschaft. 8 000 Anhänger haben sie hier, von 40 000 bundesweit. In Sachsen-Anhalt sind es rund 500, Gemeinden gibt es in Halle, Magdeburg, Bernburg, Köthen und Halberstadt. Viele Mormonen ziehen in den Westen, Arbeit und Studium hinterher. „Da geht es uns nicht anders als anderen“, sagt Manfred Schütze nüchtern. Sein Walkie-Talkie quäkt wieder, er muss los. (mz)