Ein Alkoholiker berichtet Bauarbeiter aus Bad Suderode wird nach Trennung zum Alkoholiker: Nun ist er trocken und Altenpflegehelfer

Bad Suderode/Aschersleben - Eigentlich müsste Marc Schumann tot sein. Er hat getrunken und getrunken. Gesoffen bis zum Koma. „Ich trank mich von einem Delirium zum nächsten“, sagt Schumann. Am 12. August 2017 war es dann vorbei. Marc Schumann traf sich mit Arbeitskollegen in seiner Wohnung und trank, bis er nicht mehr aufwachte. Eigentlich hätte er sterben müssen.
Doch dieser letzte, tiefe, endgültige Rausch kostete ihn wider Erwarten nicht das Leben. Er eröffnete ihm stattdessen die Chance auf ein neues. Ohne Alkohol.
„Man muss erst richtig auf den Arsch fallen, um zu sehen, was man angerichtet hat“, sagt Schumann heute. Schumann (Name geändert) wurde vor 41 Jahren in Halle geboren und wuchs in Bad Suderode auf.
„Man muss erst richtig auf den Arsch fallen, um zu sehen, was man angerichtet hat“
1996 geht er nach Niedersachsen, macht eine Ausbildung auf dem Bau. Im selben Jahr lernt er auch seine erste große Liebe kennen. „Die Sucht kam nach der Trennung. Da war ich fast jeden Tag volltrunken.“
Seine Freundin verlässt ihn nach 13 Jahren wegen eines anderen Manns. Schumann zieht in eine Kleinstadt bei Hildesheim. Dort lernt er seine spätere Frau kennen. Sie ist etwa 20 Jahre älter als er.
„Am Anfang war alles super, als wir noch getrennte Wohnungen hatten“, sagt Schumann. „Die Probleme begannen, nachdem wir zusammengezogen sind.“
Es habe, berichtet Schumann, ständige Reibereien mit dem Sohn seiner Frau gegeben. Mit zunehmendem Frust wächst auch Schumanns Alkoholkonsum.
„Ich habe auf dem Weg von der Arbeit nach Hause Bier gekauft und unterwegs mit dem Trinken begonnen“, erinnert er sich. Zu dieser Zeit habe er nur Bier getrunken. 15 bis 18 Flaschen am Tag.
Mit zunehmendem Frust wächst Schumanns Alkoholkonsum
Im Haus wohnt er in einem eigenen Zimmer. „Wir haben uns kaum noch gesehen“, sagt Schumann. „Ich hatte regelmäßig einen Vollrausch.“
Er habe sich eines Tages Mut angetrunken und seine Frau vor die Wahl gestellt: „Dein Sohn oder ich.“ Er verliert.
Innerhalb von einer Woche sei er ausgezogen und zu seinem Bruder nach Hannover gegangen. Doch auch der hat ein Alkoholproblem - und setzt ihn bald vor die Tür.
Ein paar Tage verbringt Schumann auf dem Hauptbahnhof in Hannover. Er freundet sich mit ein paar Polen an, die ihm auch einen Schlafsack geben.
Vier Schnellentgiftungen habe er praktiziert, um vom Suff loszukommen. Die helfen zwar dem geschundenen Körper, doch der Kopf bleibt süchtig. „Das hat nichts gebracht, weil die psychologische Seite gefehlt hat“, sagt Schumann.
„Ich habe die Sorgen und Probleme in mich reingefressen und ertränken wollen“
„Ich habe die Sorgen und Probleme in mich reingefressen und ertränken wollen.“ Nach der Episode auf dem Hauptbahnhof geht Schumann eine dreimonatige Langzeittherapie in Salzgitter an.
„Die war sehr gut, da habe ich viel mitgenommen“, sagt er. Geholfen hat es am Ende dennoch nichts. „Mit der Scheidung fing der Stress so richtig an.“
Das habe ihn „in ein Tief gerissen, weswegen ich wieder zur Flasche gegriffen habe“. Schumann zieht in eine Einzimmerwohnung. „Da ging es in die Vollen“, sagt er, und es klingt nicht gerade stolz.
„Es war kein Bier mehr, sondern harter Schluck. Alles, was gedreht hat, habe ich mir reingehauen.“ Zum Beispiel Sangria aus dem Tetrapak - aufgehübscht mit Rum.
„Das Letzte, an das ich mich in dieser Zeit erinnern kann, war, dass ich mit ein paar Arbeitskollegen gemütlich ein Bier trinken wollte.“ Dann geht das Licht aus.
Nach einem Vollrausch liegt er mehrere Tage in seiner Wohnung im Koma
Schumann fällt ins Koma. Er liegt mehrere Tage in seiner Wohnung, niemand weiß, wie lange genau. Tage? Eine Woche? Die Ärzte diagnostizieren bei ihm später einen Dekubitus der Kategorie vier.
Das ist der höchste Grad des Wundliegens. In der medizinischen Fachliteratur heißt es dazu: „Vollständiger Gewebeverlust. Knochen, Sehnen oder Muskeln liegen frei.“
Niemand kümmert sich um Schumann, der in seiner Wohnung in den eigenen Exkrementen liegt. Am 12. August 2017 ruft dann aber ein Nachbar Polizei und Notarzt.
„Es muss im Hausflur gestunken haben - nach Tod, nach Fäkalien“, sagt Schumann. Im Arztbericht heißt es später, er sei ohne Bewusstsein „auf dem Boden liegend vorgefunden“ worden.
Knapp zwei Wochen liegt Schumann in einem Krankenhaus in Gronau. Er erinnert sich nicht daran. Dann wird er nach Hildesheim verlegt.
Der Dekubitus hat sich bis zum Steißbein durchgefressen, und auch die Ferse ist betroffen. Das führt zu einer Knochenentzündung und später zu einer Blutvergiftung.
Der Dekubitus führt zu einer Knochenentzündung, später zu einer Blutvergiftung
Mehrmals muss das faule Gewebe abgetragen werden. Das Loch im Rücken wird mit einem Lappen aus Haut und Muskeln abgedeckt. „Ich habe dort jetzt eine Narbe so groß wie ein Arschgeweih“, sagt Schumann.
Nach einem Monat im Krankenhaus kommt Schumann in die Kurzzeitpflege. Er sitzt im Rollstuhl. „Ich konnte nicht laufen und nicht selbstständig essen“, sagt er.
Aber statt zu saufen, isst er exzessiv Gummibärchen. Und er gibt sich nicht auf. Im Gegenteil. „Da hat mein Heilungsprozess begonnen“, sagt er.
„Es war die geilste Zeit meines Lebens.“ Vom Rollstuhl arbeitet er sich über den Rollator bis zur Krücke hoch. Wird wieder Mensch.
Später räumt er seine Wohnung. „Es sah aus wie eine Hafenkneipe nach einer Schlägerei“, sagt er. Neben all den Flaschen habe er auch eine OP-Decke, Blut und angetrocknete Exkremente vorgefunden.
„Es war hart, das alles zu sehen. An diesem Tag habe ich Rotz und Wasser geheult“, sagt er. „Was habe ich gemacht? Wie konnte es so weit kommen?“
Aus der Kurzzeitpflege kommt Marc Schumann Ende 2017 direkt zu seiner Schwester nach Aschersleben, macht hier 2018 ein Praktikum in einem Altenheim. Und es gefällt ihm.
2018 macht Schumann ein Praktikum in einem Altenheim, es gefällt ihm
„Ich habe keine Scheu davor, alte Leute zu waschen oder zu windeln“, sagt er. „Außerdem ist Pflege mehr als Popoabwischen.“ So lässt sich Schumann zum Altenpflegehelfer umschulen.
Nach einem Jahr Ausbildung fängt er Ende des vergangenen Jahres in einer Senioren-WG in Aschersleben an. „Ich wundere mich, dass ich das alles geschafft habe“, sagt er.
Er arbeitet jetzt in drei Schichten. Am liebsten macht er die Spätschicht von 13.30 bis 22 Uhr. Er lebt mit seinem „Miezekater“ in einer kleinen Wohnung.
Und der Alkohol? „Am Anfang war es schwer. Ich war Gummibärchenjunkie und bin im Supermarkt immer nur an die Kassen gegangen, an denen es keine Flachmänner gab“, sagt er.
Den Vorratskeller mit den Weinflaschen bei seiner Schwester habe er abgeschlossen. „Ich habe jetzt kein Verlangen mehr“, sagt er heute.
„Wenn mir jemand mit einer Fahne gegenübersitzt, finde ich das abstoßend.“ Auch Gummibärchen isst er nicht mehr. Allein schaffe man das aber nicht. „Wenn man im Strudel der Sucht steckt und keine Anlaufstellen hat, hat man verloren“, sagt Schumann.
„Wenn mir jemand mit Fahne gegenübersitzt, finde ich das abstoßend“
Außerhalb der Coronazeit besucht Schumann deshalb wöchentlich die Abstinenzgruppe der Awo in Aschersleben, die von einer Therapeutin geleitet wird.
Jetzt will er durch eine MPU zudem seinen Führerschein zurückbekommen, den er vor zehn Jahren verloren hat. „Die Scheiße ist jetzt vorbei. Ich habe mein Leben komplett neu aufgebaut“, sagt er. „Ein Zurück gibt es nicht.“ (mz)