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Prager Frühling 1968 Prager Frühling 1968: Wie ein Soldat bei der NVA den Vormarsch der Truppen Richtung

Von Detlef Anders 03.10.2018, 07:58
Wolfgang Hartmann war so genannter „Kradmelder” bei der NVA, ein Bote mit Motorrad. Er diente in Halle bei der 11. Mot-Schützen-Division.
Wolfgang Hartmann war so genannter „Kradmelder” bei der NVA, ein Bote mit Motorrad. Er diente in Halle bei der 11. Mot-Schützen-Division. Anders

Aschersleben - Das Jahr 1968 war das Jahr, in dem Wolfgang Hartmann heiratete und sich über einen Sohn freuen konnte. Ein denkwürdiges Jahr für den aus Mehringen stammenden Ascherslebener. Aber auch aus einem zweiten Grund, der ihn gerade jetzt im Herbst bewegt und bei dem er beim Erinnern stets Gänsehaut bekommt.

Es war das Jahr des Prager Frühlings. Als am 21. August 1968 die ersten Panzer nach Prag rollten, war die NVA der DDR, in der Hartmann gerade diente, nicht dabei. Und dennoch: „Wir dachten, es kommt Krieg.“

Als sowjetische Panzer nach Prag rollten, war Hartmann NVA-Soldat

Die Erinnerung an diese Zeit macht den Malermeister noch heute emotional. Die brisante politische Lage, das Feldlagerleben in Zelten im Vogtland mit ständiger Einsatzbereitschaft, und dann seine schwangere Frau, die er nicht sehen durfte. Zu der er tagelang keinen Kontakt haben durfte.

Hartmann war mit 19 ganz normal eingezogen worden. Er diente in Halle bei der 11. Mot-Schützen-Division. Da er nur DDR-Radiosender hören durfte, maß er dem Abmarsch zum Feldlager bei Hermsdorf am 28. Juli keine große Bedeutung zu.

Die Hoffnung, bald wieder in der Kaserne zu sein, zerschlug sich aber. Der Ascherslebener kann sich noch genau erinnern, wie sich ein Major seiner Einheit freute, als am 20. August der Befehl zur Verlegung kam. „Endlich können wir den tschechischen Genossen zu Hilfe kommen“, habe der nach der Alarmierung über das rote Telefon gerufen.

Alle Soldaten bekamen plötzlich scharfe Munition

Alle Soldaten, laut Wikipedia hatte die 11. MSD in Friedenszeiten 11.000 Mann, bekamen scharfe Munition. „Angst und Nachdenklichkeit machten sich breit.“ Nur in den Augen einiger hoher Offiziere habe er Freude gesehen.

Für die Verlegung an die tschechische Grenze sei die Autobahn vom Hermsdorfer Kreuz bis Plauen voll gesperrt gewesen. Ein sechs Kilometer langer Konvoi sei bei Nacht und Nebel unterwegs gewesen, schildert der heute 70-Jährige.

Sechs Kilometer-Konvoi bewegte sich nachts Richtung Prag

Als Melder der Division vornweg fahrend, hätte er dann noch einen in der Nacht mitten auf der Autobahn stehenden unbeleuchteten russischen Panzer entdeckt und veranlasst, dass die liegengebliebenen „Freunde“ zumindest ein Warnfeuer aus Putzwolle entzündeten, damit die anderen Fahrzeuge der Kolonne nicht auffuhren, erzählt Wolfgang Hartmann.

Der Wald bei Plauen, in der Nähe des Örtchens Werda, wo die NVA-Kolonne schließlich in einem Wald ein großes Feldlager aufbaute, sei ihm wie ein Märchenwald erschienen, obwohl „da richtig was los war“. Solch zarte Grashalme wie dort habe er nie wieder gesehen.

Radio war verboten, das „Neue Deutschland“ wurde vorgelesen

Am schwersten sei aber gewesen, dass er seine Frau nicht sehen konnte. Alle hatten eine Ausgangs- und Urlaubssperre. Nachrichten seien nur aus der SED-Tageszeitung „Neues Deutschland“ vorgelesen worden. Niemand durfte Radio hören. Briefe wurden zensiert. „Für mich war das besonders hart, da meine Frau im achten Monat schwanger war und es auch keine Möglichkeit gab, nach Hause zu telefonieren.“

Hartmann und seine Mitstreiter von der Militärpolizei schoben Tag und Nacht Dienste. Einige Soldaten verschwanden mit scharfen Waffen, betrunkene Soldaten und Unteroffiziere mussten aus Kneipen, junge Mädchen und Frauen aus Mannschaftszelten geholt werden.

Die Erleichterung war groß, als bekannt wurde, dass die NVA nicht in Prag einmarschiert. Die scharfe Munition sei wieder eingesammelt worden, doch einige Soldaten hätten noch versucht, mit Waffe und Munition über die CSSR in die BRD zu fliehen. „So weit ich weiß, hat es keiner geschafft.“ Trotzdem blieb die Einheit noch vor Ort.

Einige Soldaten versuchten, mit Waffe und Munition zu fliehen

Hartmann hoffte, bald wieder nach Halle zu können, um die Geburt seines ersten Kindes erleben zu können. „In der ersten Septemberwoche war ich seelisch und moralisch am Tiefpunkt angelangt.“

Sein Politoffizier befreite ihn zumindest vom Streifendienst. Er versetzte ihn in die Küche, erzählt er weiter. Als am 15. September beim Kartoffelschälen dann plötzlich sein Politoffizier mit Blumen vor ihm stand und im Kreis der Kameraden verkündete, dass er um 6 Uhr Vater eines Sohnes geworden war, war die Freude riesig.

Für 24 Stunden nach Halle, um Frau und Kind zu sehen

Er bekam dienstfrei, durfte aber nicht zu seiner Frau. Als Überraschung wurde er von einem Einwohner des Örtchens Werda zum Sonntagsbraten eingeladen. Auf einem Porzellanteller essen statt monatelang nur aus Aluminium-Kochgeschirr, das vergaß er nie. Noch viele Jahre nach der Armee pflegte Hartmann guten Kontakt zu dem Dorfbewohner.

Am 27. September durfte er dann trotz der Urlaubssperre für 24 Stunden nach Halle, um Frau und Sohn zu besuchen. Am 16. Oktober kam der Befehl zum Rückmarsch nach Halle. „Ich glaube sagen zu können, dass jeder, der an dieser Aktion beteiligt war, froh über den am Ende weltpolitisch friedlichen Ausgang dieser brisanten Lage war“, blickt Hartmann zurück. (mz)