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Nachterstedt Nachterstedt: Das erschütterte Dorf

Von ALEXANDER SCHIERHOLZ 14.07.2010, 19:15
Nachterstedt: Das Erdrutschgebiet ein Jahr nach dem Unglück (Foto: Frank Gehrmann)
Nachterstedt: Das Erdrutschgebiet ein Jahr nach dem Unglück (Foto: Frank Gehrmann) CARDO

NACHTERSTEDT/MZ. - Der Hausbesitzer: Wir sind endlich angekommen

Wenn die trüben Gedanken Hans-JoachimKral gar nicht mehr loslassen wollen, dannholt er die Mundharmonika hervor. Oder setztsich an sein Keyboard. "Das hilft mir drüberhinweg." Volkslieder spielt er dann oder Wanderlieder.Das Instrument hat ihm ein Bekannter geschenkt,kurz nach dem Unglück: "Mensch Hans, du spielstdoch!" Als Kral das erzählt, schießen ihmdie Tränen ins Gesicht.

Der Rentner und seine Ehefrau Angelika gehörenzu den 42 Nachterstedtern, die schlagartigihr Zuhause verlieren, als am frühen Morgendes 18. Juli 2009 ein großer Teil der Uferböschungin den Concordia-See rutscht und die naheSiedlung gesperrt wird. Jeden Tag, sagt Kral,denke er noch an sein Haus zurück. Sie habensich abgewöhnt, die Straße hinunterzugehenbis zur Absperrung und einen Blick daraufzu werfen: "Das tut zu weh."

Ende vorigen Jahres haben Krals eineDoppelhaushälfte im Ort gekauft, mit Hof undGarten. Bezahlt mit der Entschädigung, diesie vom Bergbausanierer LMBV erhalten haben.Die Schrankwand im Wohnzimmer glänzt neu.An der holzgetäfelten Wand im Flur hängt eineAxt mit langen verzierten Stiel. "Von Verwandtenaus Tschechien, die haben wir noch aus demalten Haus retten können." Neben vier Kartonsvoller Erinnerungen - Fotos von den Kindernund der Hochzeit, ein altes Lexikon, der Ringdes Großvaters, das Mokka-Service der Großmutter.

Es ist alles, was Krals geblieben ist vonihrem alten Leben - bis auf die Bilder imKopf und das, was sie im Herzen tragen. Hans-JoachimKral sagt, sie hätten "Besitz ergriffen" vonihrem neuen Haus, "auch innerlich, wenn Sieverstehen, was ich meine." Seine Frau nickt."Was haben wir geschimpft am Anfang, dasswir nicht zurückkönnen", sagt die 62-Jährige.Nun aber habe die Vernunft gesiegt: "Das Risikoist einfach zu groß."

Der Tourismusmanager: Ich arbeite hin auf 2012

Das Luftbild im Büro von Hans Strohmeyerin Schadeleben ist dunkelgrau, nur der Concordia-Seein der Mitte sticht hervor wie ein großesblaues Auge. Man kann auf dem Bild sehen,was alles entstehen sollte am See: Hafen,Strand und Wassersportzentrum, eine mobileSeebühne, ein Ferienhausgebiet. Stand: 2019."Visionen" steht in großen weißen Letternunten auf dem Luftbild.

Die Realität sieht der 55-jährige Geschäftsführerder kommunalen Tourismusgesellschaft SeelandGmbH, wenn er aus seinem Bürofenster in derersten Etage blickt. Direkt unter ihm erstrecktsich der Bauzaun, der seit einem Jahr denSee komplett abriegelt. Und am gegenüberliegendenUfer klafft die Nachterstedter Abbruchkantewie eine offene Wunde.

Es ist ein sonniger Vormittag, das Thermometerkratzt an der 30-Grad-Marke, ein Lüftchenweht. "Normalerweise würden jetzt langsamdie Badegäste kommen", sagt Strohmeyer. Dieaber bleiben aus, seit der See gesperrt ist.Die Segler haben ihre Boote längst aus demWasser gezogen und sich neue Reviere gesucht.Der Kioskbesitzer musste seinen Laden direktam Schadelebener Bootsanleger in der Sperrzonedicht machen. Investoren eines Campingplatzesund eines Ferienhäuser-Parks haben ihre Projektevorerst auf Eis gelegt. Auch Pensionen undRestaurants rund um den See hätten mit Einbußenzu kämpfen, sagt der Tourismus-Chef.

Hat der Tourismus eine Perspektive? Ja, glaubtStrohmeyer, auch wenn die LMBV das Seeufererst ab 2012 schrittweise wieder öffnen wolle."Das ist etwas, worauf wir hinarbeiten können."Also machen sie weiter: Im August sollen einRadweg gebaut werden am Schadelebener Ufer,etwas weg vom Sperrzaun, und ein Info-Punktfür Besucher. Die Mittel für weiteren Wegebausind bewilligt. "Die Leute sollen sehen, hierpassiert etwas", sagt Strohmeyer.

Die Reiterhof-Betreiber: Es wird langsam eng

Nadine Müller und ihr Mann haben dasWirtschaftsministerium jetzt noch einmal schriftlichan ihren Antrag auf Entschädigung erinnert."Langsam wird die Lage für uns existenzbedrohend",sagt die 28-Jährige. Seit 2006 betreibt dasjunge Paar aus dem Raum Köln das "ReitsportzentrumKönigsaue" unweit vom Nordostufer des Sees.Von Anfang an vermieten sie auch 17 Ferienwohnungen.Das Geschäft floriert - bis zum 18. Juli vergangenenJahres. Als die Bilder vom Erdrutsch durchdie Nachrichten laufen, stornieren Gäste reihenweise.Die Buchungen für die Saison 2010 brechendrastisch ein. Wer will schon einen See vorder Tür, wenn er nicht darin baden darf? "DieLeute sind verunsichert", sagt Nadine Müller,"aber wir wissen ja selber nicht wie es weitergeht".

Anfang des Jahres lässt die Besucherflauteden Pächter des Reiterhof-Restaurants aufgeben."Allein das hat uns mehrere tausend Euro gekostet",sagt Nadine Müller. Mittlerweile, nach Renovierung,ist das Lokal wieder auf. Müllers betreibenes in Eigenregie. "Wir haben einen Super-Koch",sagt Nadine Müller, als wolle sie sich selberMut zusprechen. Ihr Mann arbeitet unter derWoche jetzt wieder in seinem alten Beruf alsFliesenleger in Köln. "Das geht nicht anders",sagt sie, "wir wollen ja hier weitermachen."

Der Bürgermeister: Man muss den Menschen Trost geben

Der kommende Sonntag, das weiß SiegfriedHampe, wird hart werden. Für den ganzen Ort.Es ist der Tag, an dem sich das Unglück zumersten Mal jährt. Wie angemessen gedenkender Katastrophe? Um 13.30 Uhr wollen sie einenGedenkgottesdienst feiern, und NachterstedtsOrtsbürgermeister macht sich Gedanken überseine Rede. "Man muss den Menschen Trost geben",sagt er. So wie er das schon vor einem Jahrgetan hat, als er Krisenmanager und Seelsorgerin einer Person war. Er wird in der Kircheam Sonntag aber sicher auch den Satz sagen,den er während einer Stunde hinter seinemSchreibtisch im Rathaus mehrmals wiederholt,als wolle er sich daran festhalten: "Das Lebenmuss doch weitergehen." Die Normalität, dieder 64-Jährige beschwört, zeigt sich auchdaran, dass sie ein neues Wohngebiet erschließenin Nachterstedt. Für diejenigen, die ihreHäuser verloren haben. Aber nicht nur. "Wirwollen auch Zuzug", sagt Hampe. Soll heißen:Wir wollen nicht auf den Erdrutsch reduziertwerden.

Der Feuerwehrmann: Gänsehaut bei Erinnerung

Etwas ist anders geworden seit demErdrutsch, sagt Ronald Emme. Immer wenn jetztsein Pieper geht, muss er an die Nacht denken,in der sie die Menschen aus den Häusern inSicherheit brachten. Immer schleicht sichder Gedanke ein, rutscht da jetzt wieder etwasab? "Die Verbindung stellt man ganz automatischher." Der 47-Jährige ist ein gestandener Feuerwehrmann,aber dass ihn ein Einsatz so prägt, das hater noch nicht erlebt.

Der damalige Wehrleiter gehört zu den erstenam Unglücksort. Nur die Polizei ist schonda, zum Glück, sagt sein Kollege MatthiasSchulze, 31: "Es war diesig, man hat kaumetwas gesehen, wenn da kein Streifenwagengestanden hätte, wären wir vielleicht einfachweitergefahren." Ins Nichts. Das ganze Ausmaßder Katastrophe bekommt Emme erst Stundenspäter vom Hubschrauber aus mit: "Ich habegedacht, so etwas kann es doch gar nicht geben."Die Erinnerung malt ihm heute noch Gänsehautauf den Unterarm. Am Sonntag wollen die Feuerwehrleuteam Gedenkgottesdienst teilnehmen. "DieserEinsatz", sagt Ronald Emme, "hat uns nochweiter zusammengeschweißt."