Musikerzwillinge Musikerzwillinge: Wie Enrico und André Schelzer Ost-Hits mit großem Orchester mixen

Aschersleben - Dirigent Florian Kießling hebt den Taktstock und leise setzen die Violinen. Ein Cello kommt dazu, dann steuern die Holzbläser eine traurige Melodie bei. Zweieinhalb Minuten baut sich Spannung auf, die Instrumente flüstern miteinander, als müssten sie erst noch besprechen, wo das alles hinführen soll, diese vertrackten Harmonien, das Flüstern der Viola.
Ostrock meets Classic: Der Albatros fliegt wieder
André Schelzer sitzt in diesen Momenten immer im Dunkeln und freut sich auf den Augenblick, wenn die Spannung sich entlädt. Dann schlägt der gebürtige Ascherslebener seine Trommeln, die Gitarren setzen ein und sein Zwillingsbruder Enrico am Mikrophon singt von krachenden Stürmen, rauer Gewalt und Ozeanen, so unendlich weit. „Das ist einfach ein Riesenwerk“, sagt Schelzer über die 40 Jahre alte Karat-Hymne „Albatros“, die seine Band Ostrock meets Classic mit einem dreiminütigen Orchester-Intro aufführt, das die Dramatik des Originals auf die Spitze treibt. „Ich bekomme bei dem Song immer noch richtig Gänsehaut.“
Und neuerdings ist der 50-Jährige, der im Harzstädtchen Ilsenburg lebt, damit nicht mehr allein. Wenn Ostrock meets Classic, vor vier Jahren als Ergebnis einer „ziemlich verrückten Idee“ (Schelzer) gegründet, in diesen Tagen auf „30 Jahre Mauerfall“-Tour durch den Osten Deutschlands zieht, sind die Hallen meist ausverkauft. Nicht nur die Fans von früher strömen in die Konzerte der siebenköpfigen Band, die von 25 Orchestermusikern unterstützt wird. „Es kommen auch jede Menge junge und ganz junge Leute, also die Kinder und Enkel der Generation, die den Ostrock noch zu DDR-Zeiten erlebt hat“, beschreibt André Schelzer.
Ostrock meets Classic: 22 Tonnen Technik liegen auf den Trucks
Ein bisschen Staunen ist immer noch dabei, wenn der Schlagzeuger vom Triumphzug des Großunternehmens erzählt, zu dem sich Ostrock meets Classic in den vergangenen drei Jahren ausgewachsen hat. 50 Leute sind unterwegs, darunter die Sängerinnen Sabine Schierwagen und Sarah Witter, der Dardesheimer Bassist Gerald Wirth, Keyboarder Thomas Becke und Gitarrist Jens Loose. 22 Tonnen Technik liegen auf den Trucks und zuletzt hoben prominente Gaststars wie Ex-Puhdy Dieter „Quaster“ Hertrampf und Mike Kilian von Rockhaus „das ganze Ding noch mal auf ein anderes Level“.
Schelzer sind Verblüffung und Demut anzumerken, die er immer noch spürt, wenn er von seinem Schlagzeugpodest in volle Hallen voller Menschen schaut, die voller Inbrunst alte Hits wie „Wasser und Wein“ von Lift oder „Am Fenster“ von City mitsingen. Ein Wunder, denn Schelzer kann sich noch gut an die Zeit erinnern, als kein Mensch das „ganze Ostzeug“ hören wollte. „Nachdem die DDR weg war“, sagt er, „kamen ja richtig tote Jahre.“ Die Musik von Bands wie Puhdys, Silly, Karat, Pankow oder Stern Meißen lag wie Blei in den Regalen. Die Konzerthallen blieben leer. „Alle wollten doch nur noch die Originale aus dem Westen hören.“
Ostrock meets Classic: „Wir nannten uns nach einem Silly-Lied ,Hurensöhne’“
Auch Drummer André Schelzer, der zusammen mit seinem Gitarristen-Bruder schon mit neun Jahren zur Musikschule gegangen war und später die typische Karriere mit Schülerband und Coversongs absolvierte, verlegte sich in dieser Zeit auf Hits aus aller Welt. Hauptsache, auf der Bühne stehen. Hauptsache, Musik machen. „Da musst du halt spielen, was die Leute hören wollen.“ Nur dass die Brüder irgendwann das Gefühl hatten, „das sind doch gar nicht wir, die da diese Songs abdrücken, bei denen der eine aufhört wie der andere anfängt.“ Die Schelzers sind Fans immer noch, Fans von Karat vor allem, einer Band, die sie beide lieben, „auch wenn wir dafür schon in der Schule manchmal ausgelacht wurden“. Aber ihn als Musiker, sagt Andrè Schelzer, beeindrucke die Komplexität der Kompositionen, die Karat-Keyboarder Ed Swillms schuf, bis heute. „Das geht durch alle Tonarten und klingt doch so leicht.“
Warum nicht wiedermal sowas spielen?, fragten sich die Brüder, „Musik, an der unser Herz hängt?“ Anfangs sind sie dann als Duo durchs Land gezogen, durch kleine Klubs und Kneipen, eine endlose Tournee für und zu sich selbst. „Wir nannten uns nach einem Silly-Lied ,Hurensöhne’“, grinst André Schelzer heute.
Ostrock meets Classic: Selbstbewusste Zonenrocker
Marketingtechnisch war das ein Desaster, weil Veranstalter eher weniger begeistert davon waren, diesen Namen auf ein Plakat zu schreiben. „Zonenrocker“ war dann schon besser. „Da haben wir das Negative einfach rumgedreht und gesagt, so, das sind wir.“ Der Kölner Songwriter Purple Schulz war begeistert und verpflichtete die beiden Harzer als Begleitband einer Deutschland-Tour. „Und im Vorprogramm durften wir ein paar Ost-Hit spielen.“
Es war vielleicht so etwas wie eine Initialzündung. „Wenig später kam unser Keyboarder mit der Idee, Orchesterarrangements für die Osthits zu schreiben und die dann auf dem Keyboard zu spielen.“ Der erste Test klang so gut, dass aus dem Augenblickseinfall ein Großunternehmen wurde: „Wir haben gesagt, wir suchen uns jetzt ein Orchester und machen das mal richtig groß.“
Dass die Zusammenarbeit mit den Sinfonikern vom Kammerorchester Wernigerode so einschlagen würde, ahnten die Erfinder von Ostrock meets classic nicht einmal. „Aber bei den Proben mit den Orchestermusikern haben wir gemerkt, dass das knallt und gleich das erste Konzert in einer völlig abgerockten Industriehalle bei uns in Ilsenburg war dann auch ausverkauft.“
Ostrock meets Classic: Im Schottenrock den „Sound der Erinnerung“ spielen
Der Ostrock war wieder da. Stücke wie „Wer die Rose ehrt“, „Über sieben Brücken“ oder „Bataillon D´Amour“ erwachen zu neuem Leben, wenn der junge Halberstädter Kapellmeister Florian Kießling seine klassischen Instrumentalisten ins Zusammenspiel mit der klassischen Rockband lenkt. „Viele Songs bekommen durch die neuen Arrangements eine ganz neue Dimension“, findet Bassmann Gerald Wirth, der stets im Schottenrock spielt, was er den „Sound der Erinnerung“ nennt.
Die Lieder sind alt und neu zugleich, „sie klingen bei jedem im Kopf mit“, sagt André Schelzer. Das sei überhaupt das Besondere an den Liedern aus der DDR, das unterscheide vom Deutschrock, wie er im Westen gemacht wurde. „Lyrisch mussten die wegen der Zensur so verschlüsselt und zweideutig sein, dass noch heute jeder seine Interpretation hineinlegen kann.“
Dass die Mauerfall-Tour der Ostrock-Klassiker nur auf einer Seite der alten deutsch-deutschen Grenze spielt, weil alle Auftrittsorte in den neuen Ländern liegen, hält Schelzer denn für normal. Deutschland hat eine musikalische Gegenwart, aber verschiedene Vergangenheiten, ganz so wie im richtigen Leben.
Man könnte natürlich auch drüben spielen, in Niedersachsen oder im Ruhrgebiet. „Überall leben ja Leute, die hier weggegangen sind.“ Aber die Hallen wären doch kleiner, die Wege weiter. Nee, schüttelt André Schelzer den Kopf. Zu großes Risiko, zumal in den ostdeutschen Ländern genug zu tun ist für die rollende Hitshow aus dem Harz. Bis zum Frühjahr sind sie noch auf der Mauerfall-Tour unterwegs, „danach geht’s dann schon Richtung Deutsche Einheit“, sagt Schelzer. „30 Jahre eins“ wird das Programm heißen, neue, alte Lieder, opulente Orchesterarrangement, Klassiker und Wiederentdeckungen. „Der Fundus ist immer noch voller Perlen, die warten alle nur darauf, dass wir sie heben.“ (mz)
Termine und Konzertdaten: www.ostrock-meets-classic.com