Kinderschicksal Kinderschicksal: Die Spuren des Heimes
Gernrode/MZ. - Was treibt einen Menschen dazu, sich nach einem halben Jahrhundert an ein Stück Kindheit erinnern zu wollen, das alles andere als glücklich war? "Meine Frau", sagt Jürgen Plate, und es ist viel Dankbarkeit in seiner Stimme. Sie hat den Anstoß gegeben, vor einigen Jahren. "Du musst dich dem stellen", hat sie gesagt, damit Plate das Geschehene verarbeiten konnte. Fünf Jahre in einem Kinderheim. Fünf Jahre, die er 30 Jahre lang abgekapselt hatte von seiner Biografie. "Dinge, über die ich nicht reden wollte."
Die Kindheit von Jürgen Plate endet jäh 1952. Da ist der Harzgeröder neun Jahre alt. Der Vater, Berufsoffizier, ist im Krieg geblieben. Die Mutter, bis dahin Hausfrau, muss noch einen Beruf erlernen, erfüllt sich ihren Kindheitstraum und wird Krankenschwester. Doch das geht nur in Quedlinburg. Ihre beiden Söhne leben bei den Großeltern in Harzgerode.
Doch als die Oma stirbt, fehlt plötzlich die Frau im Haus - für die staatlichen Stellen der Grund, einzuschreiten. "Wir kamen von heute auf morgen ins Heim", erinnert sich Plate. Sein Bruder nach Quedlinburg, er nach Gernrode. Familiäre Bande spielten keine Rolle, nur das Alter war entscheidend, wer wo seine Kindheit zu verbringen hatte. Für Jürgen Plate begann ein Leben mit Uhr und Klingel. Wie in einem Militärinternat wurde Plate mit seinen Altersgenossen im Kinderheim "Hilde Coppi" in Gernrode auf Pünktlichkeit und Disziplin gedrillt. Acht Kinder in einem Zimmer waren nicht die Ausnahme, mindestens vier jedoch die Regel. In der Waldstraße 6 wurde den Internierten so ziemlich alles an Individualität geraubt. Aus dem Haus ging es nur in Gruppen, und dann auch nur, um zur Schule zu gehen. Natürlich in entsprechender Anstaltskleidung. Systemtreue wurde indoktriniert - "ich kann noch heute alle Strophen von ,Spaniens Himmel'' singen, ich war richtig rot", erzählt der einstige Heimzögling. Drei bis viermal hat Plate seine Mutter in jenen Jahren gesehen, "den Heimaturlaub zu entziehen, war eine beliebte Strafe".
Und bestraft wurde nicht der Einzelne, sondern meist die Gruppe. Es gibt Dinge aus dieser Zeit, über die will und kann der gebürtige Harzgeröder bis heute nicht reden. Trotz der "enormen psychischen Belastung", der die Kinder ausgesetzt waren, "wurde ich ein guter Schüler". Das war die Ausnahme. "Das Heim verändert einen völlig, mancher ist daran zerbrochen." Seinem Bruder bereitet es bis heute Probleme, über die Zeit zu reden. Doch Plate kann dem Drill auch gute Seite abgewinnen: Es sei eine harte Schule fürs Leben gewesen, "allen von uns wurde eine gewisse Anständigkeit mitgegeben". Und nicht alle Erzieher waren systemnahe Büttel: Da war zum Beispiel Adolf Knappe, "der uns sehr gefördert, immer viele Flug- und Schiffsmodelle mit uns gebaut und unsere Liebe zum Sport geweckt hat". Plate hat Knappe wiedergefunden - er lebt noch heute in Gernrode...
Der Text wurde gekürzt. Die vollständige Fassung lesen Sie in der Druckausgabe der Mitteldeutschen Zeitung vom 27.04.2002.