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50-jähriges Abitur 50-jähriges Abitur: Speckschuhe und Humanismus

Von Hendrik Kranert 21.06.2002, 15:00

Quedlinburg/MZ. - "Weißt du noch" - so fangen an diesem Tag viele Sätze an. Manche haben sich ab und an gesehen, mache gar nicht. "Es ist schade, dass wir in den ganzen Jahren nichts voneinander gehört haben", bedauern zwei grau melierte Herren am Eingang. Am Tisch hinten in der Ecke werden derweil Adressen getauscht. Und verträumte Blicke aus den mit Weinlaub umrankten Fenstern auf den Schulhof geworfen. Ein bisschen Rühmannsche Feuerzangenbowlen-Romantik.

Weiter vorn geht es lausbubenhafter zu. Ein Endsechziger leiht dem ehemaligen Klassenkameraden den Rücken, damit dieser sich auf der Gästeliste eintragen kann. Die Augen blitzen wie nach einem gelungenen Streich. Drei Klassen legten 1952 das Abitur ab - für Altsprachen, Neusprachen und Naturwissenschaft. Barbara Spengler, heute 68, war eine der letzte neun, die noch Griechisch und Latein unterrichtet bekamen.

"Es war eine bewegte Zeit", erzählt Werner Lange, der Neusprachler, in der Pause der Festveranstaltung. Die eine Diktatur war eben erst in Schutt und Asche versunken, da schickte sich die nächste an, die Jugend zu drillen. "Doch das war gut, wir wurden auf diese Weise provoziert, gegen den Strom zu schwimmen", sagt Lange. Das GutsMuths-Gymnasium, das damals seinen Namen noch nicht zurück bekommen hatte, leistete etwas, was in dieser Zeit nicht mehr gewollt war: Die Unterrichtung seiner Schüler in Humanismus und selbstständigem Denken. Manfred Steinbach, der Naturwissenschaftler, erinnert sich noch gut an die stille Opposition, die Lehrer und Schüler gemeinsam übten. Als Lange mit Speckschuhen - der letzte Schrei aus Amerika - zum Unterricht kommt, nimmt ihn sein Klassenlehrer beiseite, um ihn auf mögliches Ungemach hinzuweisen.

Doch den Pennälern war das egal: "Wir waren aufmüpfig", sagt Steinbach. Und so steckten in den Speckschuhen geringelte Söckchen, wer Westbeziehungen hatte, trug Parallelo und lutschte Vivil: "Unser Zugang zur freien Welt", erinnert sich der 69-Jährige schmunzelnd, der sein Abitur dank hervorragender Leistungen in Leichtathletik bestand. "Schwimmen war nicht so meine Sache." Doch der Spaß endete mit dem Abitur - "uns wurden Studiengänge aufgezwungen, die wir gar nicht wollten". Lange sollte Lehrer statt Arzt werden, Spengler emigrierte in der Wittenberger Kirchenmusikschule. Später gingen sie in den Westen. Zuletzt Manfred Steinbach, Arzt, Weltrekordler über 4x100 Meter und für acht Tage mit 8,14 Meter im Weitsprung. Zweimal war er bei Olympischen Spielen, einmal für die DDR, dann für die BRD. Doch Quedlinburg vergessen hat keiner. Ulrich Weiße, der vor zwei Jahren damit begonnen hatte, vom Harz aus das Klassentreffen zu organisieren, bat alle, ihre ganz persönlichen Erinnerungen an die Schulzeit aufzuschreiben. Heraus gekommen sind immerhin 49 Geschichten, zusammen gefasst in einer blauen, dicken Schulmappe, die auch Karikaturen von Lehrern und eine in Sütterlin geschrieben Liste aller Schüler von 1944 enthält - Weißes Arbeitsgrundlage für die Suche nach den Mitschülern.

Vergessen wurden aber auch nicht die Lehrer und Direktor Josef Drotschmann, die aufgrund ihres Alters nicht mehr nach Quedlinburg kommen konnten. "Jenen, die sich mit uns so viel Mühe gegeben haben und denen wir unendlich Mühe machten", sagt Pastor Fritz Borchardt aus Westerhausen in seiner Laudatio. Drotschmann hatte seinen Abiturienten aus Hamburg einen Brief geschrieben, der mit der Erinnerung an ein Lied endet, dass die 60 ehemaligen Schüler am Freitag zum Ende der Festveranstaltung gemeinsam sangen: "Die Gedanken sind frei.".