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Tradition lebt: Holunder, Käse, Krabbeltierchen

Von Sabine Fuchs 23.06.2010, 11:50

Würchwitz/dpa. - Holunderbirnen sind keineswegs eine spezielle Obstsorte. Wer sie genießen will, darf nicht zartbesaitet sein, denn mit jedem Biss wandern tausende Milben den Gaumen hinunter.

Für die Einwohner eines kleines Dorfes ist diese Käsespezialität jedoch ein Hochgenuss. Lisbeth Brauer erlebt derzeit die schönste Zeit des Jahres. Die 94-jährige gewählte Milbenkäsekönigin aus dem kleinen Ort Würchwitz im Burgenlandkreis fertigt ihre Spezialität: die Holunderbirnen.

Nach einem alten Rezept, überzieht sie Holunderblüten mit Magerquark, so bekommen die Dolden die Form einer Birne. Dann taucht sie die ummantelten Blüten in eine Kiste mit munter krabbelnden Milben. Die 0,3 Millimeter kleinen Tierchen lassen den Quark in ein bis drei Monaten zum lebendigsten Käse der Welt reifen. «Für empfindliche Gemüter ist das nichts», sagt die jung gebliebene Königin. Doch sie freue sich, wenn der Käse lebt. Ihrer soll der beste sein, deshalb amtiert sie seit 20 Jahren als Käsekönigin.

Seit dem Mittelalter bereiten die Würchwitzer ihren Milbenkäse mit seinem gewöhnungsbedürftigen Geschmack. Hochzeit ist jedes Jahr zur Holunderblüte. Für den «normalen» Stinker, formen sie kleine Röllchen aus Magerquark, geben Kümmel hinzu und setzen sie in eine Kiste mit den «Tyrogliphus Casei», so der lateinische Name der Spinnentiere. Dann beginnt der Reifeprozess. Wichtig dabei ist, dass keinerlei Konservierungsstoffe bei der Zubereitung der Röllchen verwendet werden. Das würde die Milben verdrießen.

Einmal pro Tag öffnet der ehemalige Biologie- und Chemielehrer Helmut Pöschel seine alte Munitionskiste. Denn ohne weiteres sorgen die Spinnentiere nicht für die Spezialität. Sie müssen mit ihrer absoluten Lieblingsspeise, dem Roggenmehl, verwöhnt werden. «Sonst veredeln sie den Quark nicht und fressen ihn auf», sagt Pöschel. Wer sich trotz des säuerlich-bissigen Geruches aus der Kiste nicht abschrecken lässt, wird von Pöschel zu einer Kostprobe eingeladen: Butterstulle mit Milbenkäse. Pro Schnitte wandern mehrere tausend Milben über den Gaumen. «Der Käse ist gesund», schwört Pöschel.

Der ehemalige Lehrer setzt sich seit Jahren für das Fortschreiben der alten Tradition in dem kleinen Ort im Länderdreieck von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ein. So ließ er im Dorf ein 3,5 Tonnen schweres Denkmal aus weißem italienischen Marmor für die Tierchen errichten und öffnete auch ein Museum für den lebendigsten Käse der Welt.

Er hat es auch geschafft, dass sich nun Wissenschaftler der Spinnentiere aus Würchwitz annehmen. «Wir sind hier sehr interessiert an Käsemilben im Allgemeinen und den Milben im Würchwitzer Käse im Besonderen», schreibt Dr. Henk Braig von der Bangor Universität Wales. So würden die Spinnentiere des Würchwitzer Käses auch in Universitätsvorlesungen in Wales und England genutzt.