Nach Kuttner-Posse Sarah Kuttner: Zu blöd zu lasch - warum heute alle auf uns Eltern rumhacken
„Kack-dreiste Mütter“ und „Bälger“ – zimperlich geht es nicht gerade zu, wenn Nicht-Eltern im Internet gegen Eltern und deren Nachwuchs wettern. Anlass für diese jüngst verfassten Tiraden war ein Facebook-Post der Autorin Sarah Kuttner (37) – über Kinder-Pipi. Sie schrieb: „Mütter, die mitten im Kiez, nahezu eingekesselt von Cafés und somit Klos, ihre Kinder zum Pullern an Bäume halten: nö!“ – und trat damit eine Lawine von teils hasserfüllten Kommentaren los.
Von Kinderurin an Bäumen kann man natürlich halten, was man will. Fest steht aber: Das Lästern über Eltern hat Konjunktur. Genüsslich wird sich über Nachwuchs namens Karl-Emil, Iphigenie oder den kleinen „Fritz-Dinkeldoof“ mokiert. Bücher über antiautoritäre oder überbesorgte Eltern verkaufen sich bestens. Ein Café-Betreiber, der in seinem Laden im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg Kinderwagen mit einem Betonpoller aussperrt, bekommt Zuspruch. „Endlich“, kommentiert ein Internet-User schlicht.
Die neue Lust am Eltern-Bashing
Aber woher kommt diese Lust am Eltern-Bashing und die Überzeugung, Erziehung besser zu können? Den Diplom-Psychologen Andreas Engel erinnert das an den typischen Fußballfan, der vor dem Fernseher liegt und dem Trainer zuruft, was der zu tun hat. „Jeder, wirklich jeder hat eine Vorstellung von Erziehung“, sagt er.
Engel arbeitet seit Jahren als Erziehungsberater. Die Kluft zwischen Eltern und Nicht-Eltern verbreitere sich, sagt er – und erklärt sich das mit schrumpfenden Familien, immer später gebärenden Frauen und der wachsenden Zahl von Paaren, die keine Kinder haben. „Damit geht natürlich viel Wissen über das Leben mit Kindern und Einfühlungsvermögen verloren“, sagt Engel. „Wer mit Kindern gelebt hat, weiß, dass man die Erziehungsvorstellungen, die man vorher so hatte, in die Tonne klopfen kann.“ Er trainiere in seiner Beratungsstelle sogar Eltern darin, mit Ratschlägen von Außenstehenden umzugehen.
Die Statistiken geben Engel Recht: Laut den aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts sind Mütter in Deutschland bei der Geburt ihres ersten Kinds im Schnitt 29,5 Jahre alt. Seit Anfang der 80er Jahre hat sich damit der Eintritt in das Leben mit Kind um mehr als 4 Jahre nach hinten verschoben, im Vergleich zu Frauen in der ehemaligen DDR sogar um mehr als 7. Jede fünfte Frau zwischen 40 und 44 hat heute kein Kind.
Die Fronten zwischen Eltern und Nicht-Eltern sind verhärtet
Doch ist das fehlende Verständnis für Eltern der einzige Grund für die verhärteten Fronten? Die Autorin und Journalistin Anja Maier hat noch eine andere Antwort. Sie machte sich vor ein paar Jahren selbst auf ironische Weise über „Macchiato-Eltern“ lustig, die – ihren Worten zufolge – mit ihren Kindern die deutschen Innenstädte eroberten und dort Nicht-Eltern das Leben schwer machten: in ihrem Buch „Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter“.
Heute ist Maier erschrocken über die Feindseligkeit in der Debatte. Die Eltern seien aber nicht schuldlos. Sie schürten teils Aggressionen – zum Beispiel mit veränderten „Erziehungskoordinaten“. „Jede Familie ist heute eine kleine Debattengruppe“, sagt Maier. „Muss man wirklich alles diskutieren? Muss alles öffentlich stattfinden?“ Auch hätten ihrer Meinung nach Kinder abends in schickeren Restaurants nichts zu suchen.
Noch dazu seien Mütter und Väter chronisch unzufrieden. „Es gibt immer so ein Gejammer der Eltern“, sagt Maier – dabei sei Deutschland viel kinderfreundlicher geworden. „Es gibt 100-mal mehr Spielplätze als in meiner Kindheit, es gibt Kindermuseen, Eltern-Kind-Cafés, Spielstraßen noch und nöcher und Abenteuerwälder“, zählt sie auf. Wenn Eltern dann mal in ein Café nicht hereinkämen, regten sie sich auf. „Sie sind nicht glücklich zu machen.“
Dabei kann die Pro-Eltern-Fraktion durchaus auch austeilen – im Fall „Kuttner und das Kinder-Pipi“ wird die Ex-MTV-Moderatorin teils übel beschimpft.
Das sagt die Bloggerin zu Anfeindungen
Die Düsseldorfer Eltern-Bloggerin und Mutter zweier Kinder Sonja Lehnert vom Blog „Mama notes“ plädiert auch für verbale Abrüstung im Netz: „Die Hate Speech aus dem Internet dürfen wir aber auch nicht verwechseln mit dem, was sonst im Leben abläuft. Ich kenne solche Beschimpfungen nur aus dem Netz, nicht aus meinem analogen Umfeld.“
Lehnert setzt auf das Verständnis von beiden Seiten. Sie sagt: „Junge Eltern sowie Nicht-Eltern wissen heutzutage gar nicht mehr, wie anstrengend das Leben mit Kindern sein kann und welche Bedürfnisse Kinder haben. Zum Beispiel kann ein kleines Kind, das übt, trocken zu werden, gar nicht so lange einhalten, bis es ins Café kommt.“
Mehr Verständnis für Eltern und ihre Kinder!
Natürlich sei auch sie gegen Wildpinkeln unweit von Cafés, wenn es keinen Notfall gebe, aber es fehle ihr generell oft das Verständnis für kleine Kinder und ihre Eltern. „Kinder gehören nunmal in die Gesellschaft und die Welt dazu.“ Da müsse man es auch aushalten können, dass Kinder mal an einen Baum pinkeln, wenn es nicht anders geht.
Übrigens: Der Umgangsformen-Berater Moritz Freiherr Knigge sieht Kinder, die in der Öffentlichkeit pinkeln, als Zumutung an. Die Kinder selbst könnten dafür aber am allerwenigsten. (dpa, lha)