Teneriffa Teneriffa: Höhle mit Aussicht

Hunderte Bergrücken ragen in den Himmel. Samtig und grün wie in einem Kleid aus englischem Rasen gleiten sie Stufe für Stufe hinunter, aus einer unendlichen Weite in die Enge stiller Schluchten. Aus den Felsspalten dringt das Rascheln scheuer Tizón-Eidechsen. Aus der Ferne weht der Gesang des Meeres herüber, gepaart mit der Melodie des Windes. Manchmal stimmt eine Lorbeertaube ein, von einem der Gipfel hoch oben in den abgeschiedenen Anaga-Bergen. Hier lassen Silvestre, Pedro und Javier ihre Rotweingläser klingen.
Die Söhne der Familie Rojas haben gerade die Feldarbeit beendet. Mit Schweißperlen auf der Stirn blicken die Brüder aus dem Dorf Chinamada von ihrer Terrasse auf eine der schönsten Landschaften Teneriffas. „Was wir hier tun? Wir bauen kanarische Runzelkartoffeln an. Nachts schlafen wir in dieser Höhle“, erzählt der 34-jährige Pedro und zeigt auf eine Felsöffnung hinter sich. Chinamada ist eines von zwei Dutzend abge-schiedener Dörfer im weitgehend unbekannten Nordosten der Insel. Hier streckt sich das wild zerklüftete Anaga-Gebirge über 160 Quadratkilometer aus, dicht bewachsen von Lorbeerwald, Baumheide und dem kanarischen Wolfsmilchgewächs Tabaiba.
Dazwischen immer wieder Terrassenfelder. Manche bewirtschaftet, andere der Natur überlassen. Weißgetünchte Fassaden ragen aus den Felsen, hübsch dekoriert mit bunten Blumentöpfen auf einer ebenso weißen Felsterrasse. Was sich dahinter in den Berg bohrt, lässt sich kaum erahnen. Die Höhlen, in denen auch Pedro und seine Brüder nächtigen, sind gut ausgebaute Wohneinheiten mit Wohn-, Schlaf-, Badezimmer und Küche. Fenster jedoch gibt es nicht. Anders als bei den Guanchen, Teneriffas Ureinwohnern, die die Grotten im 16. Jahrhundert als Schutz vor den spanischen Eroberern in die Berge schlugen, sind Strom, Wasser und Telefon inzwischen Standard.
Wer einen Dorfspaziergang macht, marschiert zwangsläufig über das eine oder andere Dach der heimlichen Behausungen. „17 Höhlenwohnungen gibt es hier, aber nur sieben ständige Bewohner“, erzählt Pedro. Und ergänzt: „Wir haben zwar die schönste Insellandschaft, aber keine Arbeit. Deshalb ziehen viele Bewohner während der Woche in die Städte.“ Das stille Höhlendorf ist so langsam zu einem Wochenendsitz geworden. Dann besuchen die Jüngeren ihre betagten Eltern und helfen auf den Feldern. So wie heute. In mühseliger Handarbeit haben die Rojas-Brüder den Familienacker mit ihren altertümlichen Kartoffel-schaufeln umgegraben. Das geht nur so in diesem unwegsamen Gelände, in dem sich ihr Erdapfelfeld wie ein Amphitheater in halbkreisförmigen Stufen das Tal hinaufzieht.
Ursprünglich war das Anaga-Gebirge ein eigenes Massiv aus Basalt und Lava. Vor zehn Millionen Jahren verschmolz es durch vulkanische Aktivität mit anderen zur Insel Teneriffa. Seitdem ist es die feuchteste Region des Eilandes. Dafür sorgen die Passatwolken, die sich hier stauen, und der Bosque de las Mercedes, der Lorbeerwald. Wenn seine Bäume ins Wolkenmeer gehüllt sind, kondensiert die Feuchtigkeit des Nebels auf den Blättern und tropft zu Boden. So kommt vier Mal mehr Wasser in die Erde, als Regen je liefern könnte. Gute Bedingungen für den Kartoffelanbau der Familie Rojas und die grüne Gebirgslandschaft.
Immer wieder zieht es vereinzelte Wanderer in diese Einöde, zu den abgelegenen Dörfern auf den Felsen, die Las Carboneras oder Chamorga heißen, und den einsamen Weilern Benijo oder Almaciga am Meer. Lange Jahre waren sie nur über alte Caminos Reales, die königlichen Handelswege, erreichbar. Damals walkte man hier Leinenpflanzen und verarbeitete ihre Fasern zu traditionellen Kleidern.
Noch immer sind große Teile des Anaga-Gebirges schwer zugänglich und so idealer Lebensraum für seltene Tiere und endemische Pflanzen wie den kerzenleuchterförmigen Cardón. Die meisten Dörfer sind inzwischen mit dem Auto erreichbar. Vom Gebirgskamm führen Straßen zu ihnen. Er ist die einzige Verbindung zwischen der alten Inselhauptstadt La Laguna und dem äußersten Nordosten. Schon hier ist man in einer fremden Welt, fühlt sich wie bei Tolkiens Hobbits. Und das nur eine Fahrstunde von den Touristenzentren Teneriffas entfernt. In zahlreichen Serpentinen geht es durch den ursprünglichen Lorbeer-Urwald. Baumwurzeln, knorrig und dick, quetschen sich durch die Felskanten bis zur Straße. Moose und mannshohe Farne kleben an den Vorsprüngen. Darüber ein Blätterdach als Schutz vor der Feuchtigkeit. Früher schlugen die Tinerfeños hier Feuerholz und machten Kohle daraus. Das Dorf Las Carboneras bekam seinen Namen daher: der Kohlemeiler.
Die Stiftung Santa Cruz Sostenible überlegt nun, aus dieser Berglandschaft ein Unesco-Biosphärenreservat zu machen. Die Beteiligten der Stadt Santa Cruz und der Sparkasse Caja Canarias wollen damit punkten, dass das Gebirge europaweit die größte biologische Vielfalt pro Quadratmeter bietet. Doch manche Dorfbewohner sind skeptisch. Vor allem, weil sie trotz aller Einschränkungen zufrieden sind in ihrer atemberaubenden Einöde. Die Besucherzahlen sind überschaubar, und bislang gibt es keine Investoren, die aus den niedlichen Wohnhöhlen schicke Landhotels machen wollen - und damit ein touristisches Disneyland. Im US-amerikanischen Arizona wurde eine Wohnhöhle bereits für 1,5 Millionen Dollar zum Kauf angeboten. Mit ein paar Quadratmetern mehr und Garage. Chinamadas Bewohner interessiert so etwas nicht. Noch nicht. Aber vielleicht dreht sich die Entwicklung in dem abgeschiedenen Bergdorf irgendwann. Pedro, Silvestre und Javier könnten ihr Rotweinglas dann möglicherweise aus einem ganz anderen Grund erheben.

