Piraten-Insel Pitcairn Piraten-Insel Pitcairn, Mönchsrepublik Athos

Gibt es sie überhaupt noch? Die Orte jenseits von jedem. Stellen, an denen es wirklich noch etwas zu entdecken gibt, Gegenden, die man nicht schon hundertmal in der eigenen Timeline gesehen hat, die man wirklich noch zum ersten Mal sehen kann, weil sie so entlegen sind, dass die filmenden Autos von Google-Street-View nicht bis zu ihnen vorgedrungen sind.
Dennis Gastmann hat mit seinem Buch „Atlas der unentdeckten Länder“ den Beweis angetreten: Ja, es geht.
Haifischreservat Palau, Mönchsrepublik Athos
Die Motivation des Autors und seiner zeitweiligen Weggefährten dürfte der vieler Individualreisenden ähneln: „Er war es leid, sich in einer Kolonne um die Sagrada Familía schieben zu müssen oder eine Münze über tausend Köpfe in den Trevibrunnen zu werfen, und ich war es auch. Wir suchten das Unbekannte: verborgene Königreiche, verbotene Berge, ferne, vergessene, magische Orte.“ Aber wo gibt es die tatsächlich noch?
Der Autor taucht in Palau mit Haien, er wagt sich in den „Mafiastaat“ Transnistrien in der ehemaligen Sowjetunion und führt ein asketisches, mittelalterliches Leben in der autonomen Mönchsrepublik Athos in Griechenland, in der nicht nur Frauen, sondern auch Kühe und Ziegen nicht willkommen sind. Das Hauptziel seiner Reise ist jedoch die „Mutter aller unentdeckten Länder “. Es sei „der entlegenste Ort auf dem Globus. Wer noch weiterreisen will, muss in eine Mondrakete steigen.“
Die Insel der Nachfahren der Bounty-Meuterer
Die Rede ist von der sagenumwobenen Insel Pitcairn mitten im Pazifik, die 5000 Kilometer von Neuseeland und 5700 Kilometer von Südamerika entfernt ist. Im 18. Jahrhundert hatten sich die Bounty-Meuterer hierhin abgesetzt, um dem Zorn des britischen Königreichs zu entgehen. Noch immer leben ihre Nachfahren und ein paar Aussteiger hier, insgesamt etwa 40 Personen. Wer auf der Insel bleiben will, die unter britischer Verwaltung steht, muss eine gewisse Probezeit absolvieren und den Inselrat davon überzeugen, dass er der Gemeinschaft nützlich ist. Doch allein auf die Insel zu gelangen, ist schon eine große Herausforderung: Von Tahiti aus fliegt der Autor mit einem abgewrackten Mini-Flugzeug nach Mangareva, die zu den Gambier-Inseln gehört.
Mangareva – die Perlen-Insel
„Ich fand mich in der Propellermaschine einer Airline wieder, die in Französisch-Polynesien ‚Air Maybe‘ genannt wird. ‚Maybe‘, weil sie nur vielleicht ankommt, und wenn, dann immer zu spät.“ Die Landung gelingt schließlich auf einem Korallenriff, von dort aus geht es mit der Fähre weiter auf die Insel Mangareva, die von „Curacao“-blauem Wasser umgeben ist und deren weißer Sand den Autor an Kokosklocken erinnert. Passend zur idyllischen Umgebung leben die wenigen Einwohner von der Perlenzucht. „Wo das Meer endete und der Himmel begann? Wen interessierte das noch.“ Gastmann ist sich sicher: „Ich hatte den Rand der Welt erreicht. Irgendwo dahinter musste eine neue beginnen.“
Pitcairn – die Piraten-Insel
Und diese neue Welt ist Pitcairn. Aber bis zur legendären Piraten-Insel Pitcairn ist es noch ein weiter Weg. Gastmann steigt in einen Kahn mit dem Namen Claymore, der ihn in Richtung Paradies schaukeln soll. „Kein Flugzeug kann auf Pitcairn landen, kein Helikopter so weit fliegen, und die Claymore gibt sich nur viermal im Jahr die Ehre.“
Auch einen Bootsanleger gibt es auf der Insel nicht. Der Autor wird von einem Nachfahren der Bounty-Meuterer im Longboat abgeholt. „Die Einwohner warteten am Ufer. Alle vierzig. Reizende, fluchende, übergewichtige Paradieskinder, die uns auf ein Plateau in der Brandung halfen.“ Zunächst ist er bezirzt von der Idylle, er bewundert Adamstown, „die kleinste Hauptstadt der Welt“ und wohnt bei Meralda, die „von vier bis fünf verschiedenen“ Meuterern abstammt und ihrer Mutter Mavis.
„Mehr als ein halbes Jahrhundert hatte Mavis Tag für Tag ihr Leben riskiert, wenn sie die steilen Klippen zu den Quellen hinabgestiegen war, um dort Trinkwasser zu schöpfen. Sie hatte Generationen von Inselkindern gelehrt, welche Pflanzen essbar sind, wie man sie sät, wie man sie pflegt, wie man sie sät, wie man sie erntet und wie man sie zubereitet. Hundertmal war sie in jede einzelne Palmkrone geklettert.“
Das Paradies auf Erden ist nur eine Illusion
Gastmann erfährt, dass „ein irdisches Dasein ohne Steuern, Mieten und Versicherung möglich ist“. Er frage sich, „was eigentlich dagegen sprach, auf der Stelle meinen Ausweis zu verbrennen, ein Haus zu bauen und für immer auf dieser Klippe zu bleiben.“
Doch so unschuldig sind die „Paradieskinder“ nicht und das „Paradies auf Erden“ ist, wie könnte es anders sein, nur eine Illusion: Vor etwa zehn Jahren ist die Hälfte der männlichen Bevölkerung wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung von Mädchen und Frauen nach britischem Recht schuldig gesprochen worden. Es ging um „Schauergeschichten von Inzest, Polygamie und Pädophilie“, wie der Autor schreibt. Sechs Männer mussten ins Gefängnis. 32 Frauen gaben an, missbraucht worden zu sein. So weit, so bekannt.
Flüchtlinge sind auch im Garten Eden nicht willkommen
Doch manche der Inselbewohner leugnen das Geschehene noch heute, wie Gastmann berichtet: Die Mädchen und Frauen, die gegen die Vergewaltiger ausgesagt hatten, mussten die Insel verlassen. Und: Andersdenkende Aussteiger sind nicht gern gesehen, Flüchtlinge sind auch im Garten Eden nicht willkommen:
„Die wahre Pest aber ist dieses faule, hinterhältige und verlogene Hippiepack am Ende der Hauptstraße“, wettert etwa eine Nachfahrin der Meuterer gegen ein Aussteiger-Paar, das noch nicht lange auch auf der Insel lebt. „Diesen verdammten Arschlöchern sage ich immer: Verkriecht euch gefälligst dahin zurück, wo ihr hergekommen seid.“ Egal wie weit man gereist ist, welche unwahrscheinlichen Abenteuer man erlebt hat, das Paradies, so scheint es, ist schließlich immer anderswo.
Dennis Gastmann: Atlas der unentdeckten Länder. Rowohlt Berlin, 269 Seiten, 19,95 Euro.