Nordamerika Nordamerika: Niagara-Fälle - ein Fall für Marilyn

Den sieben Weltwundern hat Hollywood soeben zwei weitere hinzugefügt: Die Niagara-Fälle und Marilyn Monroe. So bombastisch beginnt die New York Times im Jahr 1953 ihre Kritik zur Premiere des Films „Niagara“ – offenbar beeindruckt vom ebenso simplen wie attraktiven Mix: Die atemberaubend schönen, aber zugleich unheilvoll tosenden Wasserfälle als quietschfarbene Technicolor-Breitwand-Kulisse. Darin jeder Meter Weg, jede Treppe als Laufsteg für ein bis dato weitgehend unbekanntes blondes, verführerisches Gift in diversen hautengen Kleidern. Manchmal auch ohne, dann verhüllt in einer Bettdecke. Sogar die Katholische Filmkritik kann sich der Wirkung des infernalen Duos Niagara plus Monroe damals nicht entziehen und urteilt - wohl unfreiwillig - zweideutig: „Amerikanisches Ehedrama mit geschickter Verwendung von Naturschönheiten.“
Am einstigen Drehort auf der kanadischen Seite der Niagara-Fälle muss man heute nicht lange nach Spuren suchen. Das Filmplakat, ein Bildband, der Film auf DVD - liegt alles in den Souvenirläden. Nur ein paar Gehminuten flussabwärts. Hier beginnt damals der „Niagara“-Thriller: Polly Cutler und ihr Mann Ray wollen Flitterwochen nachholen, in einem eigens für den Dreh errichteten Bungalow mit Niagara-Fall-Blick. Doch der ist noch belegt von Rose Loomis (Monroe) und ihrem Mann George. Rose bittet den Bungalow behalten zu dürfen, ihrem vom Korea-Krieg traumatisierten Mann gehe es schlecht. Die Cutlers stimmen zu. Doch Polly Cutler sieht wenig später, wie Rose einen anderen Mann an den Niagara-Fällen innig küsst. Auch Roses Mann schöpft Verdacht, folgt seiner Frau zum sogenannten „Scenic Tunnel“. Der führt - feucht und 46 Meter lang - noch heute aus einem Felsen heraus hinter die 52 Meter in die Tiefe rauschende Wasserwand. Beklemmend, denn so nah kommt man den Niagara-Fällen nirgends wie auf dieser Aussichtsplattform. Sie ist - ein Jahr vorm „Niagara“-Dreh eröffnet – die Touristenattraktion der frühen 50er und also idealer Showdown-Schauplatz für Roses Liebhaber und ihren eifersüchtigen Mann.
Während drehfreier Stunden genießt Marilyn Monroe ihren wachsenden Star-Status, gibt Autogramme auf der Promenade und bricht zur schönsten, freiwilligen Regendusche der Welt auf, einer Schiffstour mit der „Maid of the Mist“, dem seit 1848 durch Gischt und Wasserböen dampfenden Ausflugskahn. Er kämpft sich bis heute stündlich mit Hunderten Touristen auf wenige Meter an die 792 Meter breite Sturz-Flut heran. Um Marilyns schulterfreies, knallrotes Kleid zu schützen, bietet der Kapitän ihr einen weißen Regenumhang an – üblicherweise königlichen Hoheiten vorbehalten. Die Schauspielerin lehnt ab, schlüpft in den Poncho für Normalbürger. Der ist heute müllsack-blau und einziger Vollkaskoschutz gegen Ganzkörperwasserschaden. Die „Maid“ bleibt solange vorm Wasserfall, bis wirklich jeder Passagier seine Niagara-Taufe hat. Eingehend fragt Marilyn Monroe seinerzeit den Kapitän nach all den „Daredevils“, die sich die Niagara-Fälle hinabstürzen. Und hört Geschichten von Annie Taylor (überlebte 1901 im Holzfass) oder dem Engländer Charles Stephens: von ihm wurde 1920 nach dem Niagara-Sturz nur der rechte Arm gefunden.
Diese und andere Draufgänger - nicht nur ein Thema im sehenswerten „Daredevil-Museum“, sondern auch im Film „Niagara“: Leichenteile eines Mannes werden angeschwemmt, Rose bricht zusammen. Doch ihr Mann ist nicht der Tote, sondern taucht wieder auf, jagt seine Frau Stockwerk für Stockwerk den Turm der Rainbow Bridge hoch und erwürgt sie im Glockenhaus. Die Monroe stirbt so vorm Filmende und ist zu diesem Zeitpunkt längst neu geboren – als Sex-Ikone der noch jungen und prüden Fünfziger.
Wer den Wasserfall in voller Schönheit und ohne Gedrängel auf einen Blick möchte, sollte die Vogelperspektive buchen - einen Hubschrauberflug. Der stand übrigens vor 60 Jahren schon im „Niagara“-Drehbuch: Polly wird aus der Luft spektakulär von einer Felsklippe gerettet, wohin sie sich vor George gerettet hat, der auf der Flucht kurz darauf mit einem gestohlenen Boot die Fälle hinunter in den Tod stürzt.
Abseits von Niagara-Fällen und Uferpromenade stapelt sich die Stadt Niagara Falls, in Form von Betonklotz-Hotels und Leuchtreklamen. Damals noch nicht eingeklemmt zwischen Daddelhallen und Disneyland-Verschnitt, ist das General Brock Hotel beim Dreh wochenlang Marilyn Monroes Zuhause. Und zunehmend auch das von Jock Carroll. Der Fotograf des kanadischen „Weekend Magazines“ hat eine Woche lang nahezu ungehinderten Zugang, schießt mehr als 400 Bilder von Marilyn Monroe: Unter die Bettdecke gekuschelt das „Niagara“-Textbuch lesend. Im weißen Bademantel, die Haare auftoupiert. Sie übt, mit besonders verruchtem Gesichtsausdruck zu rauchen, rollt die Zigarette im Mund hin und her, so wie es im Drehbuch ihres nächsten Films „Blondinen bevorzugt“ steht. Heute würde der Feueralarm losheulen – Nummer 801 im heutigen Crowne Plaza ist längst ein Nichtraucherzimmer.
Carrolls Fotos erscheinen 1996 im Bildband „Falling for Marilyn“. Er zeigt nicht nur den werdenden Star, sondern auch die vom Massentourismus noch verschonten Niagara-Fälle – mit Holzbuden als Kassenhäuschen und ohne Blechlawinen. Doch das ändert sich rasant, als „Niagara“ in die Kinos kommt: Obwohl Polly und Ray im Film den Honeymoon-Horror erleben, avanciert Niagara Falls zur „Honeymoon-Hauptstadt“ amerikanischer und kanadischer Hochzeitsreisender. Es hätte aber auch ganz anders kommen, der Film im Giftschrank verschwinden und Marilyn Monroes beginnende Kino-Karriere abrupt enden können: Kurz vorm Filmstart tauchen alte Nacktfotos von ihr auf. Doch der Monroe gelingt ein so unbekümmerter wie entwaffnender Befreiungsschlag. Auf Journalisten-Fragen, ob sie denn beim Shooting gar nichts angehabt habe, antwortet sie: „Doch, hatte ich – das Radio.“