USA Die Stadt als Bilderbuch: Philadelphia und seine „Murals“
Das Kunstmuseum ist monumental. Doch die vielleicht eindringlichsten Werke schmücken in Philly Hauswände. Sie illustrieren die Geschichte der Stadt und senden soziale Botschaften.
Philadelphia - Ein Mädchen mit Zöpfen schaut aus einem Fenster in eine kunterbunte Fantasiewelt. Aus ihren Augen strahlen gelbe Lichtkegel. Ein paar Hauswände weiter sprießen Bücher, Sägen und Sextanten am „Baum der Erkenntnis“, wie das Gemälde heißt. Und gleich um die Ecke, unweit von Chinatown flattern fein gezeichnete Origami-Papiervögel eine Fassade empor, um in einem Mandschurenkranich aufzugehen.
Wer sich durch Philadelphia bewegt, entdeckt eine Fülle an großflächigen Wandgemälden im Stadtbild. Über 4.500 solcher „Murals“ gibt es in der nach New York größten Metropole an der Ostküste. Das ist zwar kein Weltrekord. Weil sich Philadelphia aber auch über die öffentliche Kunst im XXL-Format definiert und zugleich kuriert, feiert sie sich als die „Mural Hauptstadt.“ Die Wandgemälde erzählen Stadtgeschichte. Und sie sind ein großes Sozialprojekt.
Dies beginnt bei den illegalen Graffiti, mit denen - wie viele andere Großstädte auch - Philadelphia so sein Problem hat, sagt die Direktorin der Organisation „Mural Arts Philadelphia“ Jane Golden. Gangs markieren ihr Revier oft mit schlichten Signatur-„Tags“, was die betroffene Nachbarschaft verunstaltet und unsicher erscheinen lässt. Ambitionierte „Style-Writer“ sprühen ihre Pseudonyme als Buchstaben-Gebilde in immerhin ästhetischer Typographie. Das ist zwar ebenfalls illegal, illustriert aber oft künstlerisches Potenzial.
Jährlich bis zu 100 neue Wandgemälde
Diese kreative Energie umzulenken, Communitys und Künstler für die Revitalisierung des öffentlichen Raumes zu begeistern, war der Grundgedanke der „Mural Arts“-Kampagne, die auch über 40 Jahre nach ihrem Start als städtische Maßnahme gegen Graffiti-Vandalismus populär ist: Jedes Jahr wirken über 25.000 Philadelphians an bis zu hundert neuen Wandgemälden mit, eingebunden werden auch strafrechtlich verfolgte Graffiti-Writer.
Künstler machen Entwürfe und schlagen Standorte vor, Anwohner senken oder heben den Daumen darüber, und dann wird gemeinsam gewirkt und gepinselt. Das ist wohl einzigartig und außerdem das größte Programm für „public art“ in den Vereinigten Staaten: öffentliche Kunst für und von der Öffentlichkeit. Die Idee dazu hatte Künstlerin Jane Golden im Jahr 1984.
Eines der bekannteren Werke, das bei speziellen „Mural Arts“-Stadtführungen immer wieder angesteuert wird, heißt „Declaration“. Über das Foto einer jungen Frau verläuft der Text der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. 1776 wurde das Dokument in Philadelphia unterschrieben - nur ein paar Straßenblocks entfernt in der „Independence Hall“ mit dem weißen Glockenturm, in dem einst die berühmte „Liberty Bell“ läutete. Der rote Backsteinbau gehört heute zum Weltkulturerbe.
Ellen Baxter, die solche Touren leitet, hat mit den Teilnehmern vor dem Monumentalwerk haltgemacht. Genau hinschauen solle man, sagt sie. Viele Textpassagen in dem historischen Bekenntnis zu Freiheit und Gleichheit hätten die Künstler geschwärzt; solche, die mit der sozialen Wirklichkeit in Konflikt stünden. Damit werde ein Dialog über soziale Gerechtigkeit und gerechte Strafjustiz angeregt.
Kunst als Wiedereingliederungsprogramm
Kulturzentren, Schulen, Altenheime und oft sogar im lokalen Staatsgefängnis: Um möglichst viele Menschen an der großformatigen Kunst mitwirken zu lassen, hat man sich eine besondere Methode ausgedacht. Gestaltet werden die Gemälde oft nicht direkt an der betreffenden Wand, sondern als große einzelne Quadrate aus einer Art Fallschirmstoff an den verschiedensten Stätten. Am Bestimmungsort werden die Quadrate dann zu einem Gesamtwerk zusammengesetzt und aufgeklebt.
Was wie eine rein praktische Verfahrenstechnik klingt, hat damit auch eine soziale Funktion: Haftentlassene beschäftigt die „Mural Arts“-Organisation in einem Wiedereingliederungsprogramm. Für gefährdete Jugendliche gibt es Kunst-Workshops und bezahlte Sommerjobs. Am von Kriminalität stärker betroffenen Stadtrand entwickeln Täter und Opfer gemeinsam zwei „Healing Walls“ („heilsame Wände“). Es sind Bildnisse von Betroffenen, steinernen Friedhofsengeln, geflügelten Herzen, Dornen, Gitterstäben.
In der Innenstadt erschuf Street-Art-Künstler Shepard Fairey - bekannt für die Barack Obama „Hope“-Wahlplakate - zwei Murals zum Thema Masseninhaftierung und Rehabilitation. Zwei ehemalige lokale Straftäter stilisierte er ganz bewusst zu Helden. Jeder könne Großes in der Gesellschaft leisten, auch die 70 Millionen vorbestraften Amerikaner, sagte Fairey in Interviews.
Mural-Künstler Keith Haring
Wegen illegaler Graffiti wurde der Ex-Graffiti-Writer Fairey 2009 selbst verhaftet, wie einst auch Pop Art-Star Keith Haring. Dessen charakteristische Figuren - dynamisch und leuchtend bunt - tanzen seit 1987 über eine Reihenhauswand südwestlich der Innenstadt. „We the Youth“ („Wir, die Jugend“) ist Harings einziges noch intaktes Mural-Projekt an einem Originalstandort.
Wer den Blick für die Wandgemälde schärft, dem kann ein Stadtspaziergang, ob geführt oder auf eigene Faust, wie eine Reise durch ein riesiges begehbares Bilderbuch vorkommen - das viel über Philadelphia lehrt. Über seine Träume, Tragödien und Triumphe.
In Murals verewigt sind Stadthelden wie die „Phillies“-Baseball-Mannschaft oder der Jazz-Saxofonist John Coltrane, der maßgeblich in Philadelphia aktiv war. „History of the Philadelphia Fire Department“ mit seinen Feuerwehrleuten erinnert daran, dass Benjamin Franklin 1736 hier die erste organisierte Feuerwehr gründete. Es sind gefallene Polizisten zu sehen und selbstlose Krankenschwestern („Evolving Faces of Nursing“).
Aber nicht alles ist sozialkritisch, politisch, heroisierend oder klar in der Botschaft. Man muss sich nicht unbedingt den Kopf darüber zerbrechen, was etwa der Bildhauer Claes Oldenburg mit einer riesigen Wäscheklammer vor dem historischen Rathaus sagen will oder das Künstlerkollektiv „Miss Rockaways Armada“ mit „How to Turn Anything into Something Else“, dem Mural mit dem bezopften Mädchen.
Die bunte Straßenkunst ist in der Steinwüste Philadelphias schlicht auch etwas fürs Auge. Und sie geht einem manchmal auch zu Herzen - wie Stephen Powers‘ Projekt „A Love Letter for You“. Die Serie von 50 Murals an den Dächern entlang der Market-Frankford-Hochbahnlinie ist ein öffentlicher Liebesbrief eines Mannes an ein Mädchen und auch ein Liebesbrief des Künstlers an Philly.
Links, Tipps, Praktisches:
Reiseziel: An den Flüssen Delaware und Schuylkill gelegen ist Philadelphia mit 1,6 Millionen Einwohnern die größte Stadt im nordöstlichen US-Bundesstaat Pennsylvania.
Anreise: Direkte Flüge verbinden Frankfurt mit Philadelphias International Airport. Einen Mietwagen braucht man nicht. Mit Bussen sowie Straßen- und U-Bahnen ist der Personennahverkehr gut ausgebaut.
Einreise: Deutsche Urlauber benötigen in den USA kein Visum, müssen unter https://esta.cbp.dhs.gov aber eine elektronische Einreiseerlaubnis einholen (Esta-Verfahren). Sie kostet 21 US-Dollar (gut 20 Euro) und ist zwei Jahre lang gültig.
Klima und Reisezeit: Bei milden Temperaturen und relativ niedriger Luftfeuchtigkeit sind Frühling und Herbst die angenehmsten Reisezeiten. Die Zeitverschiebung beträgt in der Regel minus sechs Stunden.
Touren: Die gemeinnützige Organisation „Mural Arts Philadelphia“ bietet ein Dutzend Touren unterschiedlicher Länge, durch verschiedene Stadtteile und in mehreren Formaten an: privat, als Gruppe, virtuell, selbst geführt, per Trolley, Fahrrad oder zu Fuß. Eine Karte mit ausgewählten Murals hat die Initiative „Street Art Cities“ online gestellt.
Unterkunft: Es gibt viele Kettenhotels in sämtlichen Preislagen, aber auch historische Bed and Breakfast-Häuser und Boutique-Hotels (ab etwa 200 Dollar für die Übernachtung) in der Altstadt unweit der wichtigsten Sehenswürdigkeiten.
Währung: Ein Euro ist 1,03 US-Dollar wert (Stand: 8.01.2025).
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