Psychologie Psychologie: Zweifelhafte Zahlenwerte
Halle (Saale)/MZ. - Stellen Sie sich ein Bankschließfach vor, in dem Sie im Alter von zwölf Jahren 120 Euro deponiert haben. Vier Jahre später wollen Sie das Geld abheben - und finden nur noch 100 Euro. Woran würden Sie zweifeln: an der Bank, am Safe oder an Ihrer Art zu zählen?
Unser Gehirn funktioniert ähnlich wie ein undichter Banksafe. Das legt zumindest eine gerade im Fachmagazin "Nature" veröffentlichte Studie nahe. Unser Intelligenzquotient (IQ) ist demnach kein unveränderlicher Wert, sondern etwas, das sich binnen weniger Jahre rasant verändern kann - zum Guten wie zum Schlechten.
Hirnforscher um Sue Ramsden vom Londoner University College ließen für ihre Studie 32 Schüler im Alter von zwölf bis 16 Jahren jeweils einen Intelligenztest machen und untersuchten anschließend die Gehirne der Teenager per Magnetresonanz-Tomografie. Das Gleiche wiederholten die Wissenschaftler vier Jahre später. Der IQ-Test prüfte dabei zwei Formen von Intelligenz - die verbale und die praktische.
Für den verbalen IQ werden etwa sprachliches Vermögen und Allgemeinwissen getestet, der praktische zeigt, wie gut jemand zum Beispiel Puzzles lösen kann. Zusammen ergeben sie den Gesamt-IQ. Das Ergebnis wird, wie bei Intelligenztests üblich, mit dem Lebensalter verrechnet.
Fachwelt zeigt sich überrrascht
Das Resultat der Londoner Tests überrascht nicht nur die Fachwelt: Bei vielen Probanden schwankten die Intelligenzwerte zwischen den zwei Messungen extrem. Und auch die Gehirnstrukturen änderten sich teilweise deutlich. Bei jedem Fünften veränderte sich der verbale Intelligenzquotient, 40 Prozent hatten beim praktischen IQ neue Werte. Im Extremfall sank der Gesamt-IQ eines Teenagers um 20 Punkte, der eines anderen stieg um 23 Punkte an.
"Wir haben einen klaren Zusammenhang zwischen diesen Leistungsveränderungen und Änderungen in der Gehirnstruktur gefunden", sagt Sue Ramsden. "Daher können wir mit einiger Sicherheit sagen, dass diese Änderungen im IQ real sind."
Warum sich die Intelligenzwerte der Jugendlichen binnen weniger Jahre derart änderten, wissen die Forscher bislang nicht. Auch warum der Wert bei einigen stieg, während er bei anderen stark absank, sei unklar, bekennt Studienleiterin Ramsden.
Möglich sei, dass die Ergebnisse einfach naturgegebene Unterschiede in der Entwicklung widerspiegelten. Denkbar sei auch, dass Bildung eine Rolle spielt. Das würde allerdings bedeuten, dass sich Intelligenz, ähnlich wie körperliche Fitness, "trainieren" ließe. "Dieses Maß an Plastizität könnte vielleicht während des gesamten Lebens bestehen bleiben", glaubt Ramsden.
Sollte der Effekt - was Nachfolgestudien zeigen sollen - auch bei Erwachsenen nachweisbar sein, wäre das eine kleine Sensation. Schließlich wäre der Intelligenzquotient dann nur noch eine Kennzahl von beschränkter Haltbarkeit. Was sagt ein vor vier Jahren absolvierter Test dann über die aktuelle kognitive Leistungsfähigkeit eines Menschen aus? Wie sinnvoll wäre die Praxis, IQ-Werte bei Kindern zum Kriterium von Hochbegabung zu machen?
Mitglieder haben IQ über 130
Laut einer Aufklärungsbroschüre des Bundesfamilienministeriums ist ein IQ-Test nur zuverlässig, "wenn er bei der gleichen Person über mehrere Messungen hinweg zu gleichen Ergebnissen führt". Wie passen hohe Abweichungen da ins Bild? "Die Ergebnisse der britischen Studie sehen wir sehr kritisch", sagt Matthias Moehl, Vorsitzender des Hochbegabten-Vereins Mensa in Deutschland. "Unsere Erfahrung ist, dass die Intelligenz eines Menschen über die Lebenszeit relativ stabil ist."
Überraschend ist die ablehnende Haltung des Mensa-Sprechers nicht: Bei Mensa kann nur Mitglied werden, wer einen IQ über 130 vorweisen kann, ermittelt in einem klassischen IQ-Test. Der Test werde nur einmal bei der Aufnahme gemacht, sagt der 44-Jährige. Ein zweites Mal lasse sich kaum ein Mitglied testen.
Tagesform verzerrt Ergebnisse
Dabei weiß auch Mensa-Chef Moehl, dass IQ-Tests nicht jedes Mal gleich ausfallen. Faktoren wie Nervosität und Tagesform können die Ergebnisse stark verzerren, gibt Moehl zu: "Das ist wie beim 100-Meter-Lauf, da ist man auch nicht jeden Tag gleich schnell."
Allerdings liegt dieser Toleranzbereich, den der IQ-Test von Mensa vorsieht, nur bei sieben Punkten. Der Test beruhe auf einem Verfahren, zu dem 30 000 Tester herangezogen wurden. Eine Studie mit nur 32 Teilnehmern könne er deshalb nicht ganz ernst nehmen. Dabei ist das Ergebnis der Hirnforscher nur das neueste Argument in der über hundertjährigen Geschichte der Kritik am Intelligenztest. Schon der Neurologe Alfred Binet, der Pionier der IQ-Forschung, äußerte Zweifel an seiner eigenen Methode. Er hatte in den 1890er Jahren als Erster versucht, die Schuleignung von Kindern zu testen. Doch er blieb skeptisch: "Die Skala erlaubt, ehrlich gesagt, keine Messung der Intelligenz", sagte er. Trotzdem verbreitete sich die neue Methode rasant.
Vergessen war die schillernde Bedeutungsvielfalt des Begriffs Intelligenz, mit dem schon die alten Griechen mal "Gemütsart", mal "Besinnung" meinten. Vergessen waren auch die Kirchenlehrer des Mittelalters, für die Intelligenz ein Attribut Gottes war. Die Moderne holte den Begriff auf die Erde, um ihn sogleich auf einen Sockel zu stellen. Für den Psychologen Hans Jürgen Eysenck, Autor des Bestsellers "Die IQ-Bibel", war er der Schlüssel zum Glück: "Der IQ-Test sagt die Schul- und Studienleistung präzise voraus."
Dumm nur, dass man an seiner Dummheit laut Eysenck kaum etwas ändern kann: "Seit langer Zeit ist bekannt, dass IQ-Unterschiede in weit höherem Maß durch die Erbanlagen als durch Umweltfaktoren bedingt sind."
Solche pauschalen Thesen gelten inzwischen als überholt. "Es gibt keine einheitliche Definition von Intelligenz", erklärt Jutta Stahl, Professorin für Differentielle Psychologie an der Uni Köln. "Wenn ich glaube, dass logisches Denken Intelligenz bedeutet, muss ich anders messen, als wenn ich verbales Denken untersuche."
Moderne Tests - so auch der Londoner - vereinigen Fragen aus verschiedenen Kategorien. Wie stark die einzelnen Bereiche - sprachlich, mathematisch, sozial - aber in die Gesamtwertung eingehen, ist in jedem Test unterschiedlich.
Trotzdem führe man auch am Kölner Institut noch IQ-Tests durch, erklärt Stahl, etwa in der Berufsberatung: "Da sieht man etwa, ob jemand für einen mathematischen Beruf geeignet ist."
Auf die Angabe eines Zahlenwertes verzichte man allerdings. "Wir geben nur noch drei Kategorien an: Überdurchschnittlich, durchschnittlich und unterdurchschnittlich." Einen Gesamt-IQ als Durchschnittswert hält Stahl für "wissenschaftlich problematisch".
Die Londoner Ergebnisse haben nach Ansicht von Sue Ramsden große Bedeutung für die Leistungsbewertung von Kindern und Jugendlichen.
"Wir haben die Tendenz, den weiteren Bildungsweg von Kindern schon relativ früh im Leben festzulegen", sagt die Hirnforscherin. Jetzt habe sich gezeigt, dass sich die Intelligenz von Kindern noch weiter entwickele.
"Wir sollten deshalb vorsichtig damit sein, vermeintlich Leistungsschwache schon frühzeitig abzuschreiben", warnt die Forscherin. Schließlich könne sich ihr IQ nur wenige Jahre später signifikant verbessert haben.
Vielleicht ist das Schlaueste, was man über das Thema Intelligenzmessung sagen kann, ein Satz von Stephen Jay Gould. In seinem Buch "Der falsch vermessene Mensch" schreibt der Evolutionsforscher und Anthropologe: "Intelligenz ist, was in einem Intelligenztest gemessen wird."