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Neue Analyse Neue Analyse: So verändern und verbessern zugewanderte Kinder unsere Schulen

Von Rebecca Erken 12.07.2016, 19:08
Besser lernen: Wenn es mehr Lehrer gibt, die in den regulären Klassen unterrichten, kommt das allen Schülern zugute – nicht nur Flüchtlingskindern. (Symbolbild)
Besser lernen: Wenn es mehr Lehrer gibt, die in den regulären Klassen unterrichten, kommt das allen Schülern zugute – nicht nur Flüchtlingskindern. (Symbolbild) imago stock&people

„Wann hast Du Geburtstag?“, fragt Sylke Lassmann und blickt Nesar an. Der junge Afghane überlegt kurz, dann sagt er: „Mein Geburtstag ist am 43. März.“ Einen Moment bleibt es still im Raum, dann prusten alle los: Omid und Ali, Saeed, die drei Mustafas und Nesar selbst. Sie kennen das alle, diese Schwierigkeiten mit den deutschen Zahlen – und so ist es ein solidarisches freundliches Lachen, in das Nesar entspannt einstimmen kann.

Eine große Chance

Die Szene aus dem neuen Buch „Die Flüchtlinge sind da!“ von Armin Himmelrath und Katharina Blaß ist wegweisend: Ein solch solidarisches Lachen wie im Deutsch-Unterricht für Flüchtlinge an der Welt-Schule in Borgfeld würde man sich auch von manchen Deutschen wünschen, wenn es um die Integration von Flüchtlingskindern geht. Schließlich ist ihre Ankunft für das deutsche Schulsystem eine große Chance. Die zugewanderten Kinder können die deutschen Schulen zum Positiven verändern – das ist die Quintessenz des kürzlich veröffentlichten Buches. 

Mehr Lehrer und mehr Geld für Bildung

Denn: Durch die Flüchtlingskinder stehen auf einmal längst überfällige Reformen auf der Agenda – mehr Lehrer, mehr Geld für Bildung – die letztendlich allen Kindern zugute kommen. Die Bestandsaufnahme der Journalisten mit dem Untertitel „Wie zugewanderte Kinder und Jugendliche unsere schulen verändern – und verbessern“ will nicht nur ein Lagebericht sein, sondern auch „Mut machen, sich der Herausforderung zu stellen“. Für ihre Analyse haben die Autoren mit etlichen Experten gesprochen und diverse Studien verglichen. Das Buch liefert Antworten auf die drängendsten Fragen zum Thema –  ein Überblick:

Wie verlief die Integration von Schülern mit Migrationshintergrund in Deutschland vor Beginn der „Flüchtlingskrise“?

Nicht sonderlich gut. Die internationalen Schulleistungsstudien IGLU und PISA verdeutlichen, dass die Lage in Deutschland „besonders problematisch“ ist, wie Himmelrath und Blaß schreiben. „Bereits in der Grundschule bestehen Unterschiede im Kompetenzniveau zwischen Lernenden mit und ohne Migrationshintergrund.“ Auf den weiterführenden Schulen verschärfen sich diese noch einmal deutlich.

Wie viel schulpflichtige Kinder sind unter den Flüchtlingen in Deutschland?

Im Jahr 2015 kamen 1,09 Millionen Menschen zu uns. Nach Schätzungen der Bildungsgewerkschaft GEW und  der Kultusministerkonferenz sind darunter rund 300.000 schulpflichtige Kinder, wie die Autoren schreiben. „Zur Einordnung: 2015 wurden rund elf Millionen Schülerinnen und Schüler an allgemein-bildenden und beruflichen Schulen ausgebildet.“

Wie kann man junge Menschen in eine Gesellschaft integrieren, die ihnen vollkommen fremd ist?

Ganz klar, die Sprache und die Bildung sind der Schlüssel zur Integration, wie die Autoren aufzeigen. Das heißt, die geflüchteten Kinder müssen möglichst schnell in Deutschland in die Schule gehen. Das ist allerdings selten der Fall. In einigen Bundesländern beginnt die Schulpflicht für minderjährige Asylsuchende nicht sofort nach der Ankunft, sondern nach „Zuweisung zu einer Gemeinde“, wie in Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz oder „drei Monate nach Ankunft“ wie in Thüringen und Bayern. Experten kritisieren, dass die Kinder und Jugendlichen, die durch die Flucht ohnehin oft monatelang ohne Schulbildung waren, so unnötig lange auf den ersten Schulbesuch in Deutschland warten müssen. Und selbst wenn die Länder einen sofortigen Schulbesuch vorsehen, werden Flüchtlingskinder, etwa in manchen Bezirken von Berlin, immer wieder abgelehnt, weil es keinen Platz in den überfüllten „Flüchtlingsklassen“ gibt.

Wie starten die Flüchtlingskinder in die Schule?

Sie besuchen zunächst meist eine „Flüchtlingsklasse“ oder eine „Willkommensklasse“, in der ausschließlich Flüchtlingskinder unterrichtet werden, um erst einmal die deutsche Sprache zu erlernen, bevor sie in die Regelklassen kommen. Es gibt aber auch andere Modelle, wie Himmelrath und Blaß schreiben: Die Kinder gehen sofort in die regulären Klassen, damit sie direkt Anschluss an die deutschen Mitschüler haben und bekommen in speziellen Lerngruppen zusätzlich Deutsch-Unterricht.

Verschlechtern sich die Noten von deutschen Mitschülern durch Flüchtlinge?

„Schon wenn der Anteil von Kindern nicht-deutscher Muttersprache bei 30 Prozent liegt, setzt ein Leistungsabfall ein. Dieser wird ab 50 Prozent dramatisch“, lassen die Autoren Heinz-Peter Meidinger zu Wort kommen, den Verbandschef Deutschen Philologenverbandes. Es existieren laut Himmelrath und Blaß jedoch viele Studien, die die Auswirkungen des Migranten-Anteils auf die Leistung der Mitschüler nicht nachweisen konnten. Die Bildungsforscherin Petra Stanat etwa erklärt, die Befundlage sei „sowohl für Deutschland als auch international widersprüchlich.“

Warum können Flüchtlinge die Situation an deutschen Schulen verbessern?

„Flüchtlinge wirken wie ein Katalysator. Sie bringen die Probleme im Bildungssystem zum Vorschein“, zitieren die Autoren Mathias Anbuhl, Leiter des Bereichs Bildung im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftbundes. Die ohnehin vorhandenen Schwachstellen im Bildungssystem würden so sichtbar – und endlich angegangen. Die Bildungsmaßnahmen, die jetzt ergriffen werden, kommen auch anderen Kindern mit Migrationshintergrund zugute und letztendlich allen anderen Mitschülern.

Welche Bildungsmaßnahmen werden jetzt ergriffen?

Es wird nicht nur mehr Lehrerstellen geben, sondern auch mehr Geld und eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Behörden, damit zugewanderte Kinder schneller mit der Schule starten können. Außerdem helfen Ehrenamtliche als Lernbegleiter zusätzlich beim Erwerb der deutschen Sprache.

Das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) etwa schafft 2015 und 2016 zum Beispiel 5766 zusätzliche Lehrerstellen. Davon sollen 4124 den erhöhten Grundbedarf decken. Diese „kommen allen Schülerinnen und Schülern zugute, da diese Lehrkräfte für die allgemeinen Klassen vorgesehen sind“, zitieren die Autoren das Land. Und 19,2 Millionen Euro investiert NRW beispielsweise zusätzlich in Sachmittel für die Offenen Ganztagsschulen (OGS). Lehrer sollen außerdem darin unterstützt werden, psychisch kranken beziehungsweise traumatisierten Schülern schneller und besser zu helfen.

Armin Himmelrath und Katharina Blaß: Die Flüchtlinge sind da! Wie zugewanderte Kinder und Jugendliche unsere Schulen verändern - und verbessern, hep verlag Bern, 200 Seiten, 19 Euro.