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Nachtcafé im Seniorenheim - «Statt Schlaftablette»

Von Julia Giertz 17.10.2008, 14:03

Stuttgart/dpa. - Für ältere Leute, die in der Regel nicht mehr als sechs Stunden Schlaf brauchen, beginnen dann oft Stunden gähnender Langeweile. Meist werden sie mit Fernsehen gefüllt. Die Klagen darüber ließen Oliver Meissner, Leiter der Seniorenresidenz am Sillenbucher Markt in Stuttgart, aktiv werden. «Die Beschäftigung am Nachmittag und Abend war zu gering. Es ging mir zu früh ins Bett», erzählt der 36-Jährige. So gründete er im Mai vergangenen Jahres das Nachtcafé und verringerte damit auch die Häufigkeit der Stürze und die Einnahme von Schlaftabletten. Für das neue Angebot zwischen 18.30 und 21.30 Uhr erhält das Heim mit 40 Bewohnern nun den diesjährigen Qualitätsförderpreis der Gesundheitsforums Baden-Württemberg.

Für die Idee zum Nachtcafé orientierte sich Meissner am eigenen Freizeitverhalten. «Ich gehe gerne abends noch in die Kneipe oder ins Café. Für die Bewohner habe ich das in das Heimleben integriert.» In dem Raum mit vier Tischen treffen sich derzeit von montags bis freitags bis zu 16 alte Leute, reden, spielen und schauen gemeinsam Filme an. Ludwig Richter ist ein regelmäßiger Besucher. «Das Nachtcafé ist ein Fortschritt, es erleichtert, mit anderen in Verbindung zu kommen.» Besonders schätzt der 88-jährige Vertreter der Heimbewohner das gemeinsame Singen. «Das sind schwäbische Lieder, die wir noch von der Schule kennen.» Oft werde das Zusammensein noch mit einem besonderen Leckerbissen versüßt. So wurden kürzlich neuer Wein und Zwiebelkuchen gereicht.

Gerhard Dehne gefallen die Filmabende und «das Schwätzen bei einem Glas Wein» am besten. Vorher hat der 83-Jährige abends meist allein vor dem Fernseher gesessen.

Nicht nur die Geselligkeit, sondern auch die Gesundheit profitiert von der einfachen Maßnahme. «Das Nachtcafé ist die Alternative zur Schlaftablette», erklärt Meissner. Pflegedienstleiterin Birgit Haas berichtet: «Wenn wir sagen, ein alter Mensch ist nachts unruhig, dann ist der erste Impuls des Arztes, wir geben ein Schlafmittel.» Gingen Senioren aber später zu Bett, seien sie wirklich müde und schliefen besser. «Wenn die Bewohner nach der Tabletteneinnahme frühmorgens aufwachen, sind sie oft noch ganz dämmrig und laufen Gefahr, beim Aufstehen hinzufallen», meint Meissner. «Auch nächtliche Toilettengänge sind riskant.»

Die Wirkung der Abendbeschäftigung ist messbar: Die Zahl der Bewohner des Heims, die zum Einschlafen Tabletten brauchen, hat sich durch das Nachtcafé um zwei Drittel verringert. Von ehemals 21 Bewohnern bekommen nur noch 7 dafür ein Medikament. Meldeten die Pfleger im ersten Quartal 2007 noch 15 nächtliche Stürze, waren es im vierten Quartal nur noch 5. Meissner und Haas hatten Glück mit dem Arzt, der die meisten der alten Menschen medizinisch betreut. «Wenn der Arzt nicht kooperiert, können wir auch nichts machen», sagt die 45-jährige Pflegerin. Denn ohne ärztliche Anordnung kann den alten Menschen die Arznei nicht weggenommen werden. Weiterer Effekt des Cafés: Die alten Menschen nehmen beim geselligen Beisammensein mehr Flüssigkeit ein.

Der neue Tagesrhythmus kostet kaum etwas. «Wir haben den Nachtdienst eines Mitarbeiters zwei Stunden nach vorn verlegt. Das ist alles», berichtet Heimleiter Meissner. «Bei Leuten mit Kindern ist diese Arbeitszeit sogar beliebt, die können dann noch ihre Kinder in die Schule bringen.»

Infos zum Projekt: www.asb-in-stuttgart.de unter «Seniorenresidenzen»