"Mir ist laaangweilig!" "Mir ist laaangweilig!": Warum Sie auf diesen Satz Ihrer Kinder nicht reagieren sollten
Köln - Mir.Ist.So.Langweilig. Wie oft passen diese vier Wörter in sechs Wochen Sommerferien? Viel zu oft, befürchten viele Eltern. Denn nicht viele andere Sätze lassen Mütter und Väter regelmäßig so nervös werden, wie die Bekanntgabe des Kindes, dass dieses momentan absolut gar nichts mit sich anzufangen weiß.
„Man singt, man malt, man macht ständig etwas"
Kein Wunder, denn Langeweile hat in unserer Leistungsgesellschaft ein ziemlich schlechtes Image. Wer heute längere Zeit im Wohnzimmersessel sitzt und Löcher in die Luft guckt, macht sich verdächtig. Auch schon als Kind. Konsequentes Nichts-Tun und offen ausgelebter Müßiggang gibt es in modernen Kindheiten so gut wie nicht mehr. Die meisten Kinder kommen heute, zumindest in den Großstädten, kurz nach dem Säuglingsalter in Kita oder Krippe, wo ihnen ständig Spiel-, Mal- oder Bastelangebote gemacht werden. Auch wenn diese pädagogisch wertvoll sein mögen: Viel Zeit für Leerlauf bleibt hier nicht.
„Man singt, man malt, man macht ständig etwas, das andere für einen vorbereitet haben“, sagt Psychologin Julia Stoch. Die Kinder gewöhnten sich daran, etwas zu tun, das andere für sie für erlebenswert halten. Und in der Folge hörten sie dann irgendwann auf, sich zu fragen: Was erlebe ich denn gerne? Was macht mir eigentlich Spaß? Die Beschäftigung durch andere wird schon in der frühen Kindheit zum Standard.
Die Freude darüber, aus einer Zeit des Leerlaufs heraus Eigen-Motivation und Spielideen zu entwickeln, erleben die meisten Kinder heute viel zu selten.
Auch, weil ihre Wochen meist schon im Kindergartenalter komplett durchgeplant sind. Montags Kinderturnen, dienstags musikalische Früherziehung, mittwochs Treffen mit der Spielgruppe.
Kinder fordern, regelmäßig unterhalten zu werden
Solch ein Wochenplan ist nicht übertrieben, sondern die Realität von vielen Kleinkindern in Deutschland. Und die Eltern meinen es dabei gut. Sie wollen ihre Kinder bestmöglich fördern und bespaßen. Nicht wenige spüren den vermeintlichen Druck, tagtäglich für Entertainment sorgen zu müssen. Weil Kinder, die an regelmäßige Unterhaltung gewohnt sind, diese irgendwann auch lautstark einfordern.
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul, für viele Eltern aktuell die größte Koryphäe unter den Erziehungsexperten, schreibt dazu in einer seiner Kolumnen: „Eltern und Kinder sind Konsumenten geworden. Das führt dazu, dass vielen Kindern langweilig wird, sobald die externe Stimulation fehlt.“ Es sei ihnen schlichtweg fad ohne Computerspiele, DVDs und Fernsehen.
Auch Kindertagesstätten und Schulen setzten auf externe Stimulation. „Wenn Kinder dem den ganzen Tag lang ausgesetzt sind, erhalten sie eine Überdosis davon.“ Viele Eltern fühlten sich genötigt, diese inspirierenden Aktivitäten zu Hause fortzusetzen. „Den Druck erzeugen die Kinder, denn sie wurden stimulationssüchtig gemacht. Ohne Anregung oder Bespielung haben sie regelrecht Entzugserscheinungen. Sie beschweren sich und fordern von den Eltern, unterhalten zu werden.“
Juul geht es bei seinen Ausführungen nicht darum, Eltern zu kritisieren, die ihre Zeit gerne mit ihren Kindern verbringen und gerne gemeinsame Aktivitäten unternehmen. Er wende sich eher an die Mütter und Väter, die ständig darüber nachdenken, was sie mit ihren Kindern machen könnten, obwohl sie sich gerade eigentlich viel lieber auf dem Sofa entspannen würden.
Lieber mal zusammen auf der Couch abhängen
Dabei würde uns vielleicht genau das gut tun: Das Entspannen und Gar-nichts-Tun gemeinsam auf der Couch mit unseren Kindern. Stattdessen hetzen wir durch unsere Welt, angetrieben von Instagram-Fotos der anderen und vor allem von den eigenen Erwartungen an uns selbst. Und denken, zumindest unbewusst, dass sich unser Lebensrad immer schneller und weiter drehen muss.
Bloggerin Halima Lohbeck, die die unter Müttern sehr bekannte Webseite mamablog-mamamia.com betreibt, schreibt in einem ihrer Texte: „Nicht nur ich renne durch mein eigenes Leben. Auch die Kinder kommen meiner Meinung nach viel zu wenig zum Ausspannen, zum Faulenzen, sich langweilen und genießen. Die Tage sind so voll, wir stehen immer unter Zeitdruck und vor lauter schnelllebiger Routine kommt das Leben viel zu kurz. Das richtige, echte Leben, meine ich. Das, bei dem man die Zeit mit den Menschen genießt, die man liebt. In dem man ganz viel Zeit hat, das zu tun, was man möchte.“
Viele Eltern spüren instinktiv, dass ihren Kindern mehr Leerlauf, mehr unverplante Zeit gut täte. Und trotzdem fällt es ihnen schwer, das im Alltag umzusetzen. Vielleicht, weil unser Leben insgesamt so schnell und so offen einsehbar geworden ist, durch Facebook-Posts und WhatsApp-Profilbilder.
Die Sorge, nicht genug zu bieten
Nichts mit sich anzufangen wissen? Das muss doch heute nicht mehr sein, im Zeitalter von Youtube und Netflix. Zu verlockend sind die vielen Möglichkeiten und Angebote, schon für die Kleinsten. Auch daher empfinden viele Eltern den Satz „Mir ist langweilig“ wie eine Anklage, wie einen direkten Hinweis auf das Versagen ihrer Animateurs-Qualitäten. Der Ausspruch bereitet ihnen so viel Unbehagen, weil er in ihnen das schlechte Gefühl von „Ich biete meinen Kindern nicht genug“ entstehen lässt.
Dabei stimmt das gar nicht. „Viele Mütter und Väter tappen aber in diese Fallen und bieten ein sofortiges Spaßprogramm und ganz viele Ideen an“, sagt Elterntrainerin und Autorin Uta Allgaier aus Hamburg. Besser sei es, dem Kind das Gefühl zu spiegeln: „Du weißt nicht, was du tun sollst? Das kann sich blöd anfühlen, das kenne ich auch.“ Anstatt fünf Spielvorschläge zu machen, ist es viel hilfreicher, ständig Rohmaterial im Kinderzimmer bereit zu stellen: Papier, Pappe, Stifte, Knete und Basis-Legosteine etwa. „So hilft die Langeweile dem Kind dabei, aus seinem inneren Reichtum zu schöpfen.“
In der Langeweile entstehen oft die besten Ideen
Wie aus Langeweile eine nachhaltige Beschäftigung entstehen kann, hat die Erziehungsexpertin selbst schon oft erlebt. Etwa während eines Wohnmobil-Urlaubs mit ihrem damals neunjährigen Sohn. Nach tagelangem Regenwetter waren alle mitgebrachten Spiele durch und die Gesichter lang. Irgendwann fing der Junge an, aus den Spielsteinen der Gesellschaftsspiele eine ganze Stadt auf dem Wohnmobil-Tisch zu bauen. Er vertiefte sich völlig begeistert immer mehr in sein Werk und begann alles, was er im Wohnmobil fand, mit einzubauen: Zahnstocher, Gabeln und Korken. Und das aus eigenen Antrieb heraus. Die Öde und Fadheit? Wie weggeblasen.
Viele Experten für kindliche Entwicklung brechen eine Lanze für die die Langeweile. So auch der berühmte Schweizer Kinderarzt Remo Largo, der jahrelang die kindliche Entwicklung empirisch verfolgt hat: „Jeder Mensch braucht eine gewisse Leere, um zu spüren, was er will. Wie soll man sonst im Lauf der Zeit erkennen, wer man ist und welcher Beruf einen ausfüllen könnte? Es ist bedauernswert, dass diese Leere heute oftmals fehlt. Langeweile ist gut.“
Was bedeutet das für Eltern? Vor allem zur Ruhe zu kommen. Ist dem Kind langweilig, müssen sie zunächst einmal gar nichts tun. Sondern das Gefühl einfach hinnehmen. Nur so lernen Kinder, die Langeweile auszuhalten. Also am nächsten Regensonntag bei unruhiger Stimmung nicht gleich den DVD-Player einschalten, sondern vielleicht mal etwas ganz Verrücktes tun: Gemeinsam zehn Minuten lang die Wand anstarren. Mit Ansage. Klingt absurd, kann aber zu guten Ideen führen, was man danach machen könnte. Und das Wichtigste: Sich nicht verantwortlich fühlen für die Beseitigung der kindlichen Langeweile. Denn selbst wenn Eltern eine Spielidee nach der anderen abfeuern, wird diese vom Kind meist sowieso sofort abgeschmettert.
Eltern sollten sich nicht als ständige Entertainer für ihre Kinder verstehen. Vielleicht hilft es, beim nächsten Langeweile-Hilferuf den Rat von Familientherapeut Jesper Juul zu befolgen: „Sie umarmen ihr Kind und sagen zu ihm: Herzlichen Glückwunsch, mein Freund! Es interessiert mich, zu sehen, was du jetzt tust.“ Mag sein, dass der Nachwuchs dann irritiert ist. Aber Eltern geben ihren Kindern damit die Chance, sich mit sich selbst, mit eigenen Potenzialen, Interessen und Ideen zu beschäftigen. Auch wenn das Kind zunächst grummelt: Eine Viertelstunde später hat es sich meist in etwas vertieft. Oder fängt etwas an, auf das man als Eltern nie gekommen wäre. Ein Spiel, das schon lange auf dem Schrank verstaubt. Eine Bastelei mit Klopapierrollen. Oder eine Fantasiereise auf dem Bett, nur im eigenen Kopf. Wenn die Reize und ständigen Angebote von außen mal Pause haben, können ziemlich gute Ideen entstehen.