Haare ziehen: Aggressionen bei Kindern sind normal
Gelnhausen/München/dpa. - Der Latte macchiato schäumt verlockend aus dem Pappbecher. Wohlig seufzend sinkt die Mutter auf der Spielplatzbank nieder - um kurz darauf hektisch aufzuspringen. Haut doch der Nachwuchs den Nachbarsjungen mit der Schippe auf den Kopf.
Wenn Kinder, und ausgerechnet die eigenen, andere Kinder scheinbar grundlos attackieren, sind viele Eltern irritiert und entrüstet. Experten raten erst einmal zu Gelassenheit - und zu klaren Grenzen. Hauen und Schubsen, Beißen und Kneifen - gerade bei Kindern im Krippen- und Kindergartenalter haben Erwachsene oft den Eindruck, solche Aktionen passierten aus heiterem Himmel. «Das ist aber meist nicht so», erklärt Irmgard Schell von der Erziehungsberatungsstelle Gelnhausen. Um den Gründen auf die Spur zu kommen, sei nicht allein die Frage «Warum macht mein Kind das?», sondern «Wozu macht es das?» hilfreich. Vielleicht war der Schaufelhieb aus Sicht des Kindes nur ein Versuch, das andere Kind auf sich aufmerksam zu machen.
«Oft sind das eher harmlose, spielerische und körperliche Versuche, Kontakt aufzunehmen», ergänzt die Diplom-Psychologin Monika Wertfein. Aus ihrer Arbeit am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München weiß sie, dass Kinder viele Situationen gut untereinander regeln können, wenn man sie lässt. «Häufig machen erst die Erwachsenen das Verhalten der Kinder zu einer Aggression, weil zu viel hinein interpretiert wird.» Sich zurückhalten und die Kinder erstmal selbst ausprobieren lassen, ist der Rat der Expertinnen.
Natürlich gibt es auch Auseinandersetzungen, in die sich Erwachsene einmischen müssen. «Die Grenze liegt da, wo Gefahr besteht oder einer leidet», sagt Irmgard Schell. Eltern müssen aber nicht immer sofort auf alles eine Antwort haben. Ein klares «Nein!» kann helfen, die Situation zunächst zu unterbrechen. «Suchen Sie gegebenenfalls erst zu einem späteren Zeitpunkt gemeinsam mit den Kindern nach einer Lösung», rät Schell.
Hinter aggressivem Verhalten verbirgt sich immer die Frage nach dem Umgang mit Gefühlen. Ärger, Angst, Scham, Eifersucht oder eine hohe Erregbarkeit können Gründe für Aggressionen sein. Dabei ist es wichtig, dass Kinder lernen, ihre Gefühle zu spüren und zu artikulieren, sagt Schell. Sie müssten aber auch lernen: Alle Gefühle sind ok, aber nicht jedes Verhalten», ergänzt Wertfein.
Bei diesem Prozess können Erwachsene Kindern helfen, indem sie mit ihnen Alternativen im Umgang mit den Gefühlen entwickeln. Mit dem Fuß stampfen, eine Zeitung zerreißen, die Treppe hochtrampeln - das alles kann ein Ventil sein, um Dampf abzulassen. All dies setzt voraus, dass Eltern sich bewusst machen, wie sie selbst mit Gefühlen umgehen. Das vorgelebte Verhalten ist wesentlich wirksamer als viele Appelle.
Rebecca Dahl von der Hamburger Kindertagesstätte Bengel & Engel plädiert zudem für klare Regeln, um Kindern eine Orientierung zu geben. Und letztlich habe Aggression aber immer auch etwas mit Energie zu tun, die fließen muss. «Kinder müssen sich auspowern können», sagt Dahl. Da hilft alles, was mit Bewegung zu tun hat.
Literatur: Jesper Juul: Das kompetente Kind, rororo Taschenbuch, ISBN: 978-3-499-61485-9, 8,95 Euro.
Der Begriff der «Aggression» ist meist negativ besetzt. Das Wort stammt ursprünglich von dem lateinischen Verb «aggredi» ab - wörtlich übersetzt mit «herangehen, sich nähern». «Aggression ist auch eine positive Kraft, die es Kindern überhaupt erst ermöglicht, die Welt zu begreifen und zu entdecken», erläutert die Erziehungsberaterin Irmgard Schell. Ohne diesen Motor für Neugierde und Forscherdrang hätten Kinder gar keinen Antrieb loszurobben oder aufzustehen.