Zischen im Ohr: Tinnitus ins Unterbewusste drängen
Berlin/Freiburg/dpa. - Hörschwierigkeiten hatte Dorothea Neumann schon lange. Dann kam irgendwann der Lärm dazu. «Ich habe mich über die Geräusche gewundert und gedacht: Kommt das von der Heizung? Oder von einem Presslufthammer?», erzählt die 57-jährige Berlinerin.
Schließlich sei sie davon «so übermannt» gewesen, dass sie gar nichts anderes mehr gehört habe. Ihren Beruf als Lehrerin musste sie an den Nagel hängen - und sich langsam daran gewöhnen, dass es sich bei ihren Ohrgeräuschen um einen Tinnitus handelt.
Unterstützung fand sie bei einer Selbsthilfegruppe der Deutschen Tinnitus-Liga in Berlin-Weißensee. Dort tauscht sie sich einmal im Monat mit anderen Betroffenen aus über die für Außenstehende kaum nachvollziehbaren Beschwerden. «Ein lahmes Bein sieht jeder, da muss man sich nicht erklären», sagt sie. Es sei daher immer wieder eine Erleichterung zu hören, dass andere ähnliche Probleme haben.
Ausgelöst werden kann der Tinnitus unter anderem durch einen Hörsturz, eine Verletzung des Innenohres, die seltene Menière-Erkrankung oder ein Schalltrauma etwa aufgrund einer Explosion. Aber auch Stress gilt als Auslöser für das helle Pfeifen, Zischen oder Brummen im Ohr.
«Ansonsten ist der Tinnitus ein Erkrankungsbild, dessen Ursachen nicht eindeutig geklärt sind», sagt Michael Deeg vom Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte in Neumünster. Es gebe bislang nur die Vermutung, dass der Tinnitus unter anderem durch Schäden an den Sinneszellen des Innenohres entsteht.
Ein Tinnitus kann im Prinzip jeden treffen. Studien hätten aber ergeben, dass er gehäuft bei Menschen mit hoher Leistungsmotivation vorkommt, sagt Hans-Jürgen Hartmann vom Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) in Berlin.
Für die Behandlung gilt: Je früher, desto besser. «Wenn ein akuter Hörverlust oder Ohrgeräusche nach einem Tag nicht weg sind, sollte man sich vom HNO-Arzt durchchecken lassen.» Dann seien die Chancen noch recht gut, die störenden Geräusche wieder loszuwerden.
Oft hilft aber die schulmedizinische Behandlung allein nicht. Dann sind zum Beispiel auch Psychotherapeuten wie Hans-Jürgen Hartmann gefragt. Das Ziel sei, besser mit dem Ohrgeräusch umgehen zu lernen und es aus der bewussten Wahrnehmung zu verdrängen. «Bei einem leichten Tinnitus reicht Entspannungstraining oder Muskelrelaxation, eventuell in Kombination mit Stressmanagement-Strategien», sagt der in Fulda tätige Spezialist.
Bei schweren Fällen sei ein sogenanntes Tinnitus-Retraining sinnvoll. Die Patienten lernen, die Bedeutung des Geräuschs herabzusetzen, es nicht mehr ins Zentrum des Bewusstseins zu rücken. Da viele Betroffene in der Folge auch an Depressionen leiden, sei es ganz wichtig, sie zu aktivieren, wie Hartmann sagt. Soll heißen: Sich nicht zurückziehen, sondern Kontakt zu anderen Menschen suchen.
Dorothea Neumann gelang dies durch ihre Selbsthilfegruppe. «Wenn ich merke, es geht mir schlechter, stürze ich nicht mehr so wie früher in bodenlose Verzweiflung», sagt sie. Denn neben dem Wissensgewinn rund um ihre Beschwerden stehen in der Gruppe auch immer wieder Aktivitäten wie Konzerte oder Ausflüge auf dem Programm.
Deutsche Tinnitus-Liga: www.tinnitus-liga.de
Meist sind Infusionen die erste Wahl bei der Behandlung eines Tinnitus'. Sie sollen die Fließeigenschaften des Blutes im Ohr verbessern und so das Geräusch bekämpfen - sind aber inzwischen ebenso umstritten wie Medikamente, um die Blut-Sauerstoffversorgung im Innenohr zu erhöhen, sagt Michael Deeg vom Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte in Neumünster. Den größten Nutzen gebe es bislang bei Kortison. «Oft die letzte Rettung ist die hyperbare Sauerstofftherapie», so der HNO-Arzt. Dazu kommt der Patient in eine Druckkammer, in der auf physikalische Weise die Sauerstoffsättigung im Blut erhöht wird. Dieser Effekt scheine auf die Sinneszellen im Ohr erfolgreich zu wirken, die Therapie sei aber sehr aufwendig.