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Seltene Erkrankung Tag der seltenen Erkrankungen in Dessau: Späte Diagnose für rätselhaftes Nasenbluten

Von Bärbel Böttcher 02.03.2019, 11:00
Manfred Ettelt hat seine Ausrüstung gegen Nasenbluten immer griffbereit.
Manfred Ettelt hat seine Ausrüstung gegen Nasenbluten immer griffbereit. Bärbel Böttcher

Halle (Saale)/Dessau - Nasenbluten, immer wieder dieses Nasenbluten. Manfred Ettelt ist etwa 50 Jahre alt, als er merkt, dass da etwas nicht stimmen kann. Der Dessauer hat gerade eine neue Stelle angetreten. Die erfordert, im Gegensatz zu seinem bisherigen Bürojob, viel körperlichen Einsatz.

Er ist jetzt Schichtleiter in einer Kaufhalle und hantiert ständig mit schweren Kisten und Kästen. Darin sieht er zunächst die Ursache dafür, dass seine Nase ständig blutet.

Lange Zeit misst er dem auch keine allzu große Bedeutung bei. „Ich habe die Blutung mit den Mitteln, die jede Mutter kennt, immer wieder zum Stehen gebracht“, erzählt der heute 73-Jährige. Doch mit der Zeit wird ihm der Zustand mehr als lästig.

Arztbesuche und Arbeitsplatzwechsel bleiben ohne Erfolg

Jede Kopfbewegung nach unten ist ein Problem. Schnell mal eben etwas vom Boden aufheben? Sich einfach nur die Schuhe zubinden? Unkraut jäten im Garten? Alles endet mit einem erneuten Nasenbluten.

Also geht Manfred Ettelt schließlich zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt (HNO). Der stellt fest, dass seine Nase innen zu stark verkrustet ist. Er verschreibt ein Nasenöl. Das löst zwar die Verkrustungen. Aber das Nasenbluten bleibt. Zwei- dreimal wendet der Dessauer sich an diesen Arzt. Dann gibt er auf.

Ein zweiter HNO-Arzt vermutet, dass sein Patient mit gefährlichen Dämpfen oder Stäuben gearbeitet hat. Doch Fehlanzeige. Der Mediziner, der keine andere Ursache findet, versucht immerhin, die Blutungsquelle zu veröden. Doch wenige Tage später macht sich bei Manfred Ettelt das alte Leiden wieder bemerkbar.

Er hat inzwischen noch einmal seine Arbeitsstelle gewechselt. Ist für eine Firma im Außendienst tätig. „Ich hatte ständig Angst, dass die Nase im ungeeignetsten Moment, sprich: in einem Kundengespräch, anfängt zu bluten“, sagt er. Was ihm sehr unangenehm wäre.

Angeborene Erkrankung

Es ist schließlich eine dritte HNO-Ärztin, die auf die richtige Spur kommt. Sie untersucht nicht zuerst die Nase des Mannes, sondern schaut ihn intensiv an, dreht den Kopf, zieht am Ohr, betrachtet die Finger. „Nachdem sie damit fertig war, eröffnete sie mir: Ich denke, Sie leiden an Morbus Osler.“

„Morbus Osler ist eine angeborene Gefäßerkrankung“, erklärt Professor Walther A. Wohlgemuth, Chef der Radiologie der sowie Direktor des Interdisziplinären Zentrums für Gefäßanomalien am Universitätsklinikum Halle. „Die Gefäße vergrößern sich, bilden kleine Aussackungen, die klinisch am häufigsten in der Nasenschleimhaut auftreten und das Nasenbluten verursachen“, ergänzt er.

Aber sie treten eben nicht nur dort auf, sondern auch am Mund, im Gesicht oder an den Händen. Dort zeigen sie sich als stecknadel- bis reiskorngroße Punkte, die ebenfalls einreißen und bluten können. Genau solche Punkte, die einem ungeschulten Auge gar nicht auffallen, hat die Ärztin bei Manfred Ettelt entdeckt. Und in Verbindung mit dem Nasenbluten die richtigen Schlussfolgerungen gezogen.

Wohlgemuth erklärt, dass darüber hinaus diese Aussackungen auch in den inneren Organen auftreten können: in der Lunge, der Leber, im Magen-Darm-Trakt, selbst im Gehirn. Sie erreichten dort eine beachtliche Größe und wenn sie platzten, dann könne das lebensgefährlich sein. Das weiß auch Manfred Ettelt und ist froh, dass die inneren Organe bei ihm nicht betroffen sind.

Morbus Osler, übrigens benannt nach dem kanadischen Arzt William Osler, gehört zur Gruppe der sogenannten seltenen Erkrankungen. Davon sprechen die Mediziner, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen das spezifische Krankheitsbild aufweisen. Es gibt eine ganze Reihe von Gefäßanomalien, die dazu gehören. Walther A. Wohlgemuth spricht von 27, die, alle zusammengefasst, gar nicht so selten seien.

Das größte Zentrum steht in Halle

Die schwersten Ausprägungen sieht der Spezialist im interdisziplinären Zentrum für Gefäßanomalien an der Universität. Der renommierte Mediziner, der seit Juni 2017 in Halle arbeitet, hat es gemeinsam mit einem Spezialisten-Team in kurzer Zeit aufgebaut. Es ist einer der bundesweit wenigen Versorgungsschwerpunkte für Gefäßanomalien und mittlerweile sogar der größte in Deutschland.

Der Bedarf ist riesig. Die Wartelisten sind lang. Was weder die Patienten noch die Ärzte selbst glücklich macht. Aber dass diese Zentren, die alle noch recht jung sind, für diese speziellen seltenen Erkrankungen überhaupt entstanden sind, das sei ein großer Fortschritt. „Es passiert etwas für die Patienten in dieser Erkrankungsgruppe“, sagt Wohlgemuth. „Trotz aller Unterversorgung - das Glas ist halbvoll.“

Im Städtischen Klinikum Dessau wird am Sonnabend zum neunten Mal der „Tag der Seltenen Erkrankungen“ begangen. Er steht unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalts, Reiner Haseloff (CDU).

Der Aktionstag bringt Patienten, Selbsthilfegruppen aus dem gesamten Bundesgebiet, Vereine und Ärzte zusammen. Das Städtische Klinikum Dessau schafft so regelmäßig ein Forum zum Informations- und Erfahrungsaustausch. Betroffene können zudem ihre Interessen öffentlich vertreten.

Auch eine Morbus-Osler-Selbsthilfegruppe, vertreten durch den Dessauer Manfred Ettelt, wird vertreten sein. Sie umfasst bundesweit etwa 600 Mitglieder. Manfred Ettelt würde sich wünschen, dass er in der Dessauer Umgebung weitere Mitstreiter findet.

Rund vier Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer seltenen Erkrankung. Mehr als 5 000 der etwa 30 000 beschriebenen Krankheiten gelten als selten, weil nicht mehr als fünf Menschen von 10 000 das spezifische Krankheitsbild aufweisen. Sie werden auch die „Waisen der Medizin“ genannt, weil es für sie oft keinen Arzt gibt.

Die Krankheiten haben mehrheitlich genetische Ursachen. Andere sind immunologische Krankheiten, das heißt solche, bei denen das Abwehrsystem des Körpers gestört ist. Viele sind lebensbedrohlich. Fast alle verlaufen chronisch.

Viele Ärzte haben wegen der Seltenheit der Erkrankungen wenig Erfahrung damit. Deshalb sind sie bei „Tag der Seltenen Erkrankungen“ zum größten Teil Gäste und die Betroffenen sind die Gastgeber, die ihre Erfahrungen mitteilen.

Noch vor zehn, 15 Jahren habe man vielen der Betroffenen nicht helfen können. Heute beraten in diesen Zentren Experten verschiedener Fachrichtungen gemeinsam über Therapie-Möglichkeiten. Morbus Osler sei, so der Mediziner, ein gutes Beispiel für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von HNO-Ärzten, Magen-Darm-Spezialisten, Lungenärzte, Internisten ...

Viele Patienten, die schließlich im Warteraum von Professor Wohlgemuth sitzen, haben - so wie Manfred Ettelt - eine wahre Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich. Zum Teil hat der Mediziner für die Kollegen Verständnis. Ein Hausarzt sehe Patienten mit diesen Krankheitsbildern wenn überhaupt ein- oder zweimal in seinem Berufsleben.

Trotzdem, wenn er sich die langen Akten der Patienten anschaue, dann sei er mitunter schon betroffen, welche Irrwege sie gehen mussten, um an die richtige Stelle zu gelangen.

Das Notfall-Set liegt immer griffbereit

Als Manfred Ettelt endlich weiß, was es mit seinem Nasenbluten auf sich hat, ist er erst einmal froh. Er hofft nun auf eine Therapie, die ihn rasch davon befreit. Doch die gibt es nicht. Gelegentlich werden die Aussackungen in der Nase in einer Berliner Klinik nach einer speziellen Methode verödet. Wodurch bereits sein Geruchssinn stark gelitten hat.

Das Haus kann er nicht ohne sein Notfall-Set verlassen. Das besteht aus Tamponaden und einem blutstillenden Mittel, das in der Chirurgie eingesetzt wird. Denn schon heftiges Atmen oder Naseputzen reichen mitunter aus, um Nasenbluten auszulösen. Auch bei den Auftritten des Roßlauer Männerchores kommt es vor, dass der 2. Tenor so unauffällig wie möglich die Choraufstellung verlässt, um einem Blutschwall Herr zu werden.

„Das Medikament hilft meist, aber nicht immer“, sagt er. Einmal, als er die Blutung selbst nicht zum Stehen kriegt, da muss er mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren werden, wo er letztlich wegen des hohen Blutverlustes eine Bluttransfusion erhält.

Eine dauerhafte Heilung ist kaum möglich

Dauerhaft heilbar, so sagt Wohlgemuth, sind die meisten dieser Gefäßanomalien nicht. „Wir versuchen zum einen, die Symptome zu lindern, und zum anderen, Komplikationen, die sich im Laufe der Zeit einstellen können, zu verhindern.“ Auch hier sei Morbus Osler wieder ein gutes Beispiel.

Werde bei einem Betroffenen beispielsweise eine Aussackung in einem der inneren Organe festgestellt, so könne diese mittels eines Katheters, also minimalinvasiv, verschlossen und so die Blutungsgefahr ausgeschaltet werden. Auch bei den anderen Krankheitsbildern komme dieses Verfahren in der Regel zum Einsatz. „Offen wird nur noch selten operiert.“

„Ein Tag ohne Nasenbluten ist ein Feiertag“

Die meisten Gefäßanomalien sind übrigens nicht erblich. Hier allerdings bildet Morbus Osler eine Ausnahmen. Manfred Ettelt erzählt, dass sein Vater darunter gelitten habe - ohne es zu wissen. Ihm wurde eine Anämie, also Blutarmut bescheinigt. In seinem Gesundheitsbuch, das er als Eisenbahner führen musste, hinterließ damals ein junger Assistenzarzt die Notiz: Morbus Osler?

Dieser Frage ist niemals jemand nachgegangen. Erst später, als er den Nachlass des Vaters ordnete, ist Manfred Ettelt darauf gestoßen. Der zweifache Familienvater hat die Krankheit dann seiner Tochter „vererbt“, und sie wiederum ihrer Tochter.

Der Dessauer kann sich heute mit der Krankheit arrangieren, auch wenn sie seine Lebensqualität einschränkt. Trotzdem sagt er: „Ein Tag ohne Nasenbluten, das ist ein Feiertag für mich.“