Sprechstunde in der Senioren-Einrichtung Sprechstunde in der Senioren-Einrichtung : Mit Biss ins hohe Alter
Halle (Saale) - Gisela Künstler schaut noch etwas skeptisch. Die 81-Jährige erhält zum ersten Mal in ihrem Leben Zahnersatz. Und sie weiß noch nicht, ob sie sich so richtig daran gewöhnen kann. Zahnärztin Dorothea Schmidt, die ihr die nach mehreren Sitzungen nun fertiggestellte Prothese einsetzt, beruhigt die alte Dame. Sie versichert ihr, dass sie damit wieder besser sprechen und essen kann. Die Ärztin hat zu diesem besonderen Anlass auch „ihre“ Zahntechnikerin mitgebracht. Annett Menz von „Lorenz Dental“ in Taucha bei Leipzig kann so gleich vor Ort letzte kleine Korrekturen vornehmen.
Gisela Künstller ist Patenschaftszahnärztin
Vor Ort, das ist keine Zahnarztpraxis. Gisela Künstler musste für nicht einen der vielen Behandlungsschritte ihr gemütliches Zimmer in der Pflegeeinrichtung „Haus Luise“ in Halle verlassen. Denn die Zahnärztin hält dort regelmäßig Sprechstunden ab. Sie zieht Zähne, kümmert sich um schmerzhafte Druckstellen im Mund und gut sitzenden Zahnersatz. Dorothea Schmidt ist die Patenschaftszahnärztin der Einrichtung, die von der Volkssolidarität betrieben wird. Sie hat mit dem „Haus Luise“ einen Kooperationsvertrag abgeschlossen und betreut darüber hinaus in zwei weiteren Einrichtungen Bewohner mit Demenz.
Aktuell haben in Sachsen-Anhalt 144 Zahnarztpraxen insgesamt 199 derartige Verträge besiegelt. Etwa 44 Prozent der Pflegeeinrichtungen sind so versorgt. Da ist noch Luft nach oben. „Zwar sind die Einrichtungen seit April 2014 verpflichtet, Kooperationsverträge mit Zahnärzten abzuschließen, aber es gibt Übergangsfristen“, sagt Dr. Carsten Hünecke, Präsident der Zahnärztekammer. Dass das flächendeckend noch nicht realisiert worden sei, liege nicht an den Zahnärzten, betont er. „Die sind bereit.“
Zahnarztbehandlung ist gut für Image der Einrichtung
Carsten Hünecke verweist zugleich darauf, dass es unter den Bedingungen in den Einrichtungen mitunter schwer sei und einen hohen Aufwand erfordere, die Versorgung sicherzustellen. „Die Einrichtungen müssten zumindest räumliche Voraussetzungen schaffen. Einen Raum, in dem behandelt werden kann, den gibt es selten“, sagt er. „Mitunter erleben wir, dass es den Einrichtungen wichtiger ist, in einen freien Raum noch ein Bett reinzustellen“, fügt der Präsident hinzu. Die Erkenntnis, dass es für das Image der Einrichtung gut ist, wenn sie eine Zahnarztbehandlung anbieten kann, die habe sich noch nicht überall durchgesetzt.
Anders im „Haus Luise“. Aber auch hier gibt es keinen speziellen Raum dafür. Und so kommen die Patienten nicht zu Dorothea Schmidt, sondern sie geht zu ihnen in die Zimmer. Zweimal im Jahr wird jeder Bewohner prophylaktisch untersucht. Aber natürlich ist die Zahnärztin bei akuten Problemen schnell zur Stelle.
Allen Bewohnern kann geholfen werden
Die Arbeit verlangt ihr einiges ab. Einen Herrn, dessen Gebiss „an allen Ecken“ drückt, behandelt sie im Rollstuhl. Andere - wie Gisela Künstler - werden im Sessel versorgt. Das ist natürlich etwas ganz anderes als eine Behandlung auf einem modernen Zahnarztstuhl. Nicht nur, dass die Patienten motorisch eingeschränkt sind und nicht so gut mitmachen können, auch die Lichtverhältnisse seien alles andere als ideal, sagt die Ärztin, die zudem in der Regel ohne Helferin agiert. Aber sie will das nicht als Klage verstanden wissen. Ihr Credo: „Es gibt nichts, was wir nicht bewältigen können.“ Dem Herrn mit der drückenden Prothese kann ebenso geholfen werden wie den anderen Bewohnern, die an diesem Tag ihre Beschwerden vortragen.
Dorothea Schmidt arbeitet dabei Hand in Hand mit Annett Menz. Sie lobt deren schnelles und unbürokratisches Handeln. Die Zahntechnikerin ist im „Haus Luise“ zwar nicht jedes Mal dabei. „Aber mitunter ist es besser, sich eine Sache anzusehen, als nur den schriftlichen Auftrag zu lesen“, sagt diese. Das spare Zeit und Arbeit.
99,9 Prozent der Bewohner sind nicht entscheidungsfähig
Es gibt viele Aspekte, auf die die Zahnärztin in einer Pflegeeinrichtung achten muss. Zum Beispiel auf die Medikamente, die die Bewohner nehmen. Sie selbst können das mitunter gar nicht mitteilen. So muss Dorothea Schmidt beim Zahnziehen, wo es schon mal zu einer Blutung kommen kann, anders vorgehen, wenn Blutverdünner eingenommen werden.
„Und“, so erzählt sie, „99,9 Prozent der Bewohner haben einen Betreuer, sind also selbst nicht entscheidungsfähig.“ Bevor die Zahnärztin hier daran geht, eine Prothese oder ähnliches zu fertigen, muss sie diese Betreuer, in der Regel Angehörige, fragen. Denn da gehe es um Zuzahlungen. Meist gebe es von dieser Seite zwar keine Schwierigkeiten. Aber das alles kostet Zeit
Zahnarzt und Psychologe
„Mitunter - bei kleineren Sachen - da helfen wir auch ganz unbürokratisch“, sagt Annett Menz. Das heißt, es wird einfach getan, was getan werden muss. Dorothea Schmidt drückt es so aus: „Wir machen ganz viel mit dem Herzen.“ Das ist auch bei den Behandlungen zu spüren. Die Zahnärztin unterhält sich dabei mit den Bewohnern. Hört sich an, was diese seit dem vergangenen Besuch erlebt haben, plaudert mit ihnen ein wenig über ihre kleinen Freuden oder Kümmernisse. „Ein bisschen“, so sagt sie, „sind wir auch Psychologen.“ Denn was den Leuten am meisten fehle, das sei jemand, der ihnen zuhört.
Die Einrichtung weiß zu schätzen, was hier geleistet wird. Cathleen Arndt-Lange, die Leiterin vom „Haus Luise“, ist über die regelmäßigen Besuche von Dorothea Schmidt sehr froh. Dass die wenig mobilen Menschen nicht durch die Stadt zu einem Zahnarzt gefahren werden müssen, dass sei für alle Beteiligten angenehm - für die Einrichtung, für die Angehörigen und nicht zuletzt für die Betroffenen. Letztere müssen auf die Ärztin auch nicht lange warten, wenn sie außer der Reihe Beschwerden haben. „Sie kommt auf Abruf“, sagt Cathleen Arndt-Lange. Vor oder nach ihrer regulären Sprechstunde. Auch wenn sie dafür einmal quer durch die Stadt fahren muss. 60 Menschen leben im „Haus Luise“. Dorothea Schmidt betreut die meisten von ihnen. Nur einige haben sozusagen ihren Haus-Zahnarzt behalten. Was ihr gutes Recht ist. So oder so. Cathleen Arndt-Lange ist es wichtig, dass die Bewohner zahnärztlich gut betreut sind. Das gehöre zu einer guten Umsorgung, zu einem würde- und respektvollen Umgang mit den alten Menschen. Und viele von denen seien stolz auf ihre letzten Zähne im Mund.
Beim Lächeln Zähne zeigen
Dass sie an denen noch viel Freude haben, dafür sorgt Dorothea Schmidt, die seit 2005 eine eigene Zahnarztpraxis in Halle betreibt und auch schon seit dieser Zeit in Pflegeeinrichtungen unterwegs ist. Wie viele ihrer Kollegen in Sachsen-Anhalt, die nicht gewartet haben, bis es ein entsprechendes Gesetz gab. Und auch wenn diese Arbeit von der Gesellschaft nicht immer in genügendem Maße anerkannt wird - die Zahnärztin freut sich mit, wenn ihr Menschen wie Gisela Künstler bei einem Lächeln wieder die Zähne zeigen können. (mz)