Schmerzen Schmerzen: Ständiges Klingeln im Ohr

Wuppertal/dpa. - Viele Ursachen können zu Schädigungen im Innenohr oder am Hörnerv führen und bei Menschen jeden Alters Tinnitus auslösen. Das Spektrum reicht von Lärm, einem plötzlichen Hörsturz oder hohem Blutdruck über eine Blockierung der Halswirbelsäule bis hin zu Tumoren, Stress und Nebenwirkungen von Medikamenten.
«Es gibt fast nichts, das keinen Tinnitus machen kann», erläutert Helmut Schaaf, Oberarzt an der Tinnitus-Klinik in Bad Arolsen bei Kassel. Mehr als zwei Drittel aller Fälle lassen sich laut Gerhard Goebel aber auf Schwerhörigkeit zurückführen. «Man hört weniger und daher mehr in sich hinein», erklärt Birgit Mazurek, die Leiterin des Tinnituszentrums an der Berliner Universitätsklinik Charité.
Die Schäden im Hörsystem führen zu einer gestörten Aktivität inden Nervenfasern der Hörbahn. Wenn das Gehirn beginnt, diese gestörte Aktivität fälschlicherweise als Geräusch zu interpretieren, kommt es zum Tinnitus. Das Gehirn bewertet die vermeintlichen Töne als unangenehm und verhindert damit, dass sie einfach überhört werden können. «Das Ohrensausen entsteht im Gehirn», betont Goebel. Dort bilden sich die Muster schon nach wenigen Wochen ab: «Ähnlich wie es Phantomschmerzen beim Verlust eines Beines oder Armes gibt, ist Tinnitus eine Art Phantomschmerz des Ohrs.»
Bei manchen Betroffenen helfe schon ein aufklärendes Gespräch über das eigentlich harmlose Symptom, berichtet Helmut Schaaf. «Es regelt sich von allein, wenn man sagt, dass es kein Zeichen von Schlaganfall oder Schizophrenie ist.» Ein weiterer Hoffnungsschimmer: Akuter Tinnitus - so nennt man das Ohrensausen in den ersten drei Monaten -verschwindet in 60 bis 80 Prozent aller Fälle von selbst. Im chronischen Stadium allerdings ist die Chance auf Spontanheilung gering. Jedes Jahr wird das quälende Ohrgeräusch nach Darstellung der Tinnitus-Liga in Wuppertal bei rund 270 000 Patienten chronisch.
Geplagte sollten rasch zum Arzt gehen: «Eine Heilung ist nur inden ersten drei Monaten möglich», warnt Birgit Mazurek. In den ersten Wochen wendet der Arzt als normale Therapie durchblutungsfördernde Infusionen oder Medikamente an. «Wenn die Hörschnecke besser durchblutet wird, stellen die Hörzellen die "Hörsensationen", also den Tinnitus, wieder ein.» Nur beim Knalltrauma - etwa bei Soldaten nach einem Schuss - sei eine Kombination aus Infusionen und der Behandlung in einer Sauerstoff-Überdruckkammer sinnvoll.
Nach Goebels Empfehlung gilt als oberste Regel: die Stille meiden. Ist die Ursache des Tinnitus bekannt, könne eine entsprechende Therapie eingeleitet werden. So sollten Menschen mit einem Hörschaden ein Hörgerät tragen - dann nehmen die Umgebungsgeräusche zu, und das Ohrensausen steht nicht mehr im Vordergrund. «Wenn man aber die Ursache nicht kennt, ist man den verschiedenen Ansätzen ausgeliefert - und die Behandlung hilft oft nicht einmal», kritisiert Goebel.
Manchmal komme es zu einem regelrechten «Therapie-Hopping», sagtSchaaf. «Die Patienten rennen allen möglichen Angeboten hinterher.» Wer sich allerdings mit immer neuen Therapien - von Akupunktur bis Magnetwellen - beschäftigt, konzentriere sich auch ständig auf die peinigenden Ohrgeräusche, sagt Anne Teterin von der Tinnitus-Liga. Dieser Teufelskreis könne zu Schlaf- und Konzentrationsstörungen sowie Depressionen führen - bis hin zu Selbstmordgedanken. «Wer eine psychische Erkrankung hat oder entwickelt, sollte dringend eine Psychotherapie machen», rät Helmut Schaaf.
Als Erfolg versprechender Weg gegen Tinnitus gilt Mazurek zufolge das so genannte Retraining, bei dem Patienten gezielt das Weghören lernen. «Das Hörsystem muss wieder auf die normale und nicht auf die ohrgeräuschfixierte Wahrnehmung trainiert werden», heißt es bei der Tinnitus-Liga. Die Behandlung besteht aus Aufklärung, dem Lernen von Entspannungstechniken, der psychischen Stabilisierung und eventuell der Versorgung mit einem Rauschgerät. Der Rauscher, der wie ein Hörgerät getragen wird, soll akustisch vom Ohrgeräusch ablenken.
Langfristig biete auch die Gentherapie positive Aussichten fürSchwerhörige mit Tinnitus, berichtet Birgit Mazurek. Im Tierversuch sei es bereits gelungen, Hörzellen zu regenerieren. «Das ist ein ganz bahnbrechendes Ereignis. Vielleicht können wir damit in fünf bis zehn Jahren taube Patienten wieder hörend machen.» Bis dahin gilt jedochnach Schaafs Darstellung als Grundsatz jeder Therapie: «Man kann mit Tinnitus prima leben - und man muss es lernen.»