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Geheimnisvolles Hirn Rätsel der Erinnerung - Alte Hüte im Kopf

Das menschliche Gehirn ist ein bis heute rätselhaftes Organ. Manchmal tut es Dinge, die seinen Besitzer am eigenen Verstand zweifeln lassen. Wenn Bekanntes plötzlich neu und fremdartig erscheint, spricht man vom Jamais-vu, dem Gegenteil eines Déjà-vu.

Von Christian Satorius 18.01.2025, 11:00
Auf der Suche nach einem dabei die Déjà-vu: Die "German Rifles"-Kompanie der 1. Virginia-Infanterie stellt in Deutschland regelmäßig Gefechte aus dem US-Bürgerkrieg nach.
Auf der Suche nach einem dabei die Déjà-vu: Die "German Rifles"-Kompanie der 1. Virginia-Infanterie stellt in Deutschland regelmäßig Gefechte aus dem US-Bürgerkrieg nach. Foto: Steffen Könau

Magdeburg/Halle/MZ. - Das menschliche Gehirn ist ein bis heute rätselhaftes Organ. Manchmal tut es Dinge, die seinen Besitzer am eigenen Verstand zweifeln lassen. Wenn Bekanntes plötzlich neu und fremdartig erscheint, spricht man vom Jamais-vu, dem Gegenteil eines Déjà-vu.

Was ein Déjà-vu ist, weiß wohl jeder. Dieses merkwürdige Gefühl, dass einem etwas Neues altbekannt vorkommt, als hätte man es schon einmal gesehen oder bereits erlebt, kann durchaus auch eine unheimliche Komponente haben. Déjà-vu bedeutet aus dem Französischen übersetzt so viel wie „schon gesehen“.

Weitaus weniger bekannt ist das Gegenstück zum Déjà-vu: das Jamais-vu. Bei dieser Erinnerungstäuschung erscheint einem Bekanntes plötzlich neu und fremdartig. Ein Jamais-vu kann sich ebenfalls seltsam anfühlen. Übersetzen lässt sich das Wort mit „niemals gesehen“. Wenn einem etwa ein guter Freund plötzlich völlig unbekannt erscheint, dann könnte dies für ein Jamais-vu sprechen.

Beide Gedächtnistäuschungen kommen im ganz normalen Alltag vor, und genau das macht ihre Erforschung nicht gerade einfach. Vor allem über das Jamais-vu ist bisher kaum etwas bekannt.

Versuche im Labor

„Wir haben versucht, das Jamais-vu unter kontrollierten Laborbedingungen hervorzurufen“, sagt Chris Moulin im Interview, einer der führenden Experten auf dem speziellen Gebiet der Erinnerungstäuschungen. „Dabei fiel mir ein, dass ich als Kind dieses seltsame Gefühl gespürt habe, wenn ich ein und dasselbe Wort immer und immer wieder aufgeschrieben habe.“ Das brachte den Neuropsychologen und Kognitionswissenschaftler der französischen Universität Grenoble Alpes auf die Idee eines Wortwiederholungstests.

In einem Experiment ließen Chris Moulin und sein Team 94 Versuchsteilnehmer ein und dasselbe Wort immer wieder aufschreiben– und zwar so oft, wie es den Probanden in zwei Minuten möglich war. Insgesamt waren es zwölf verschiedene Wörter, von denen einige im Alltag geläufig sind wie etwa „Raum“, „Tür“ und „Geld“, aber auch seltener verwendete Begriffe wie „Grasnarbe“ oder „Schüttelfrost“. Die Testpersonen durften das Schreiben jederzeit abbrechen, wenn sie wollten, mussten allerdings anschließend den Grund dafür angeben.

Was dann geschah, war interessant. 71 Prozent der Versuchsteilnehmer unterbrachen den Test mindestens einmal aufgrund eines Jamais-vus, im Durchschnitt schon nach 33 Wortwiederholungen, weil sie das geschriebene Wort als neu empfanden. Die am häufigsten genannte Erklärung: „Ich weiß, dass es richtig geschrieben war, aber es erschien mir falsch.“ Fast ebenso viele Probanden gaben an, dass sie der Ansicht waren, dass ihre Handschrift plötzlich „seltsam aussah“. 14,4 Prozent meinten: „Es war so, als hätte ich das Wort zum ersten Mal gesehen.“

Ein ungewöhnliches Experiment

„Es ist uns tatsächlich gelungen, Jamais-vus im Labor künstlich zu erzeugen, die vergleichbar mit denen waren, die im Alltag ganz spontan entstehen“, erläutert Moulin die Studienergebnisse. „Dennoch gelang es uns nicht, sie bei allen Versuchsteilnehmern hervorzurufen.“

Das ist durchaus bemerkenswert, denn die Teilnehmer des Experiments waren Studenten, gesunde Erwachsene also und keinesfalls Patienten mit psychischen Erkrankungen. „Es handelt sich hierbei um eine ganz normale Erfahrung, die nicht gefährlich ist“, erläutert der Professor für Kognitionspsychologie. „Lediglich, wenn die Jamais-vus nicht wieder verschwinden und sich dauerhaft einstellen, sollte man den Arzt aufsuchen. Davon habe ich aber im Gegensatz zu den sehr seltenen Fällen von Dauer-Déjà-vus noch nicht gehört.“

Interessanterweise stellte sich aber heraus, dass die Probanden, die in den sechs Monaten vor dem Experiment häufiger ein Déjà-vu erlebt hatten, auch stärker zu Jamais-vus neigten. Da fragt sich doch: Was genau ist ein Jamais-vu überhaupt? Woher kommt es und hat es vielleicht sogar einen Sinn und Zweck? Um die Antwort vorwegzunehmen: „Es existiert aktuell keine allgemeingültige Definition oder Theorie“, sagt der Experte für Erinnerungstäuschungen. Das Jamais-vu sei einfach noch nicht hinreichend erforscht. Es gibt allerdings einige Erklärungsansätze.

Wenn Worte zerfallen

Erste Hinweise finden sich schon in einer Untersuchung aus dem Jahr 1907. Die Psychologin Margaret Floy Washburn vom Vassar College in New York und ihre Mitarbeiterin Elizabeth Severance hatten darin festgestellt, dass selbst geläufige Wörter in ihre Einzelteile zerfallen und die Bedeutung verlieren können, wenn man sie nur lange genug aufmerksam anschaut.

Versuchsteilnehmer berichteten davon, dass manche Wörter schon nach nur einer einzigen Minute unbekannt erschienen und sie nach weniger als eineinhalb Minuten vergessen hatten, was das Wort überhaupt bedeuten sollte. Nach rund drei Minuten waren es nur noch Anhäufungen von Buchstaben ohne jeden Inhalt, Sinn und Zweck. Auch wenn dieses Phänomen noch nicht hinreichend erforscht ist, so gibt es heute schon einen Fachbegriff dafür: In der Psycholinguistik spricht man in so einem Fall von semantischer Sättigung.

Einigen Experten zufolge könnte hier der Schutz vor Überlastung des Gehirns eine wichtige Rolle spielen. Andere Forscher stellen Aufmerksamkeitsprozesse in den Vordergrund. Sicher ist, dass Störungen des Temporallappens mit Jamais-vu- wie auch Déjà-vu-Erlebnissen in Verbindung gebracht werden können, dem Bereich des Gehirns also, der wichtige Gedächtnisstrukturen enthält. Auffällig ist auch, dass Jamais-vus häufig bei Stress oder Übermüdung auftreten.