Teil 44: PTBS Posttraumatische Belastungsstörung PTBS: Wie Menschen ein schweres Traumata verkraften.
Halle (Saale) - Da ist ein Lokführer, dem sich ein Mann in selbstmörderischer Absicht vor den Zug wirft, der Straßenbahnfahrer, der in der Stadt ein Kind überfährt, die Verkäuferin, die einen Überfall auf ihren Supermarkt erlebt.
Es sind Situationen, die die Betroffenen tief erschüttern, sie aus ihrer gewohnten Bahn werfen. Das Gleiche passiert, wenn ein Mensch durch einen Unfall schwer verletzt wird, wenn ihm ein Bein abgenommen werden muss, wenn er querschnittgelähmt aus dem Koma erwacht, oder wenn er durch Brandverletzungen entstellt ist.
Es ist die tägliche Arbeit des Teams um Dr. Utz Ullmann, Leiter der Abteilung Medizinische Psychologie am Berufsgenossenschaftlichen Klinikum Bergmannstrost in Halle, diesen Patienten zu helfen, ihr Trauma zu verarbeiten, sie ein Stück auf dem Weg zurück in ein annähernd normales Leben zu begleiten.
Wie reagieren Menschen, die traumatischen Erlebnisse zu verkraften haben?
„Das Hauptproblem bei diesen Menschen ist - egal ob sie seelisch oder körperlich verletzt sind - der Kontrollverlust“, sagt Ullmann. „Sie haben von einer Minute zur anderen die Kontrolle über ihr Agieren verloren.“
Und das könne sehr, sehr lange nachwirken. Es komme zu einer Übererregung, zu einer starken Verzweiflung und in vielen Fällen zu einer sogenannten Nachhall-Erinnerung. „Die Betroffenen sehen das Unfallgeschehen oder den Überfall immer und immer wieder vor ihrem inneren Auge“, erklärt der Psychotherapeut.
Sie könnten das nicht steuern. Und dabei komme es auch zu den gleichen körperlichen Reaktionen wie zum Zeitpunkt des wirklichen Geschehens - etwa zu Schweißausbrüchen, Zittern, Herzrasen.
Die Mediziner sprechen in diesem Fall von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Gibt es noch weitere Störungen?
„Gerade bei Patienten mit körperlichen Verletzungen können sich schwere Depressionen herausbilden“, sagt Ullmann. Er zählt Symptome auf wie Niedergeschlagenheit, Interesselosigkeit, sozialer Rückzug, Reizbarkeit.
Es könne auch zu Aggressivität gegenüber Angehörigen kommen - nach dem Motto: Hau ab, du willst mit einem Krüppel doch sowieso nichts zu tun haben.
Außerdem könne es zu Anpassungsstörungen kommen. „Es wird der Kontakt zu den alten Freunden gemieden, weil mit deren Aktivitäten nicht mehr mithalten kann“, erklärt der Therapeut. Beispielsweise könne der früher so Sportliche nach einer Amputation nicht mehr mit ihnen Rennrad fahren oder Klettern gehen.
Ein Unfallopfer könne auch seine berufliche Identität verlieren. Ullmann führt das Beispiel eines Zimmermanns an, der nach einem Arbeitsunfall ein steifes Bein hat und nicht mehr auf dem Dach arbeiten kann. Was soll er machen? „Eine neue berufliche Identität zu finden, ist ganz schwierig“, betont er.
Und dann ist da noch die klassische Angststörung, die nicht selten auftritt. „Der Betroffene meidet beharrlich die Situation, in der er sich befand, als der Kontrollverlust auftrat“, sagt Ullmann. Das könne Höhenangst sein, Angst vor dem Autofahren, Angst, in den Supermarkt zu gehen.
Mitunter könne es passieren, dass die Frau, die im Supermarkt überfallen wurde, generell Menschenansammlungen meide - eben aus Angst, dass ihr wieder etwas passiert. „Dadurch“, so Ullmann, „kann sich das Lebensumfeld eines Menschen ganz erheblich einschränken.“
Wie kann diesen Menschen geholfen werden?
„In der Therapie, die bei nicht körperlich Verletzten überwiegend ambulant durchgeführt wird, geht es hauptsächlich um die Minimierung des Kontrollverlusts“, sagt Ullmann. Er erzählt, dass viele seiner Patienten beklagen, sie würden nicht mehr richtig funktionieren.
„Denen muss klargemacht werden, dass das, was sie als unnormal empfinden, in Wirklichkeit eine ganz normale Reaktion auf das Erlebte ist“, betont er.
Ihnen zu sagen, dass Schlafstörungen, Unruhe, das Auftauchen der Bilder vor dem inneren Auge - dass das alles nichts Ungewöhnliches in den ersten Wochen nach dem Unfall sei, das führe häufig schon zu einer Beruhigung.
„Und dann wird den Patienten vermittelt, dass zunächst unmittelbar nach dem Unfall Abschirmung das Beste für sie ist“, sagt Ullmann. Er gebe ihnen quasi als Hausaufgabe mit, sich selbst etwas Gutes zu tun, Medien zu meiden, in denen das Ereignis eine Rolle spielt, nur Menschen davon zu erzählen, die einem nahestehen, nicht denen, die dauernd danach fragen. In diesen ersten drei, vier Wochen werde in fünf therapeutischen Sitzungen zudem eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Patient und Therapeut aufgebaut.
Danach geht es an den Aktivitätenaufbau. Patienten, die beispielsweise einen Autounfall hatten, wird von ihren Therapeuten aufgetragen, sich der Unfallstelle zu nähern - zu Fuß oder mit dem Fahrrad, allein oder mit einer vertrauten Person.
Pkw-Fahrern wird empfohlen, sich erst einmal nur in das Auto hineinzusetzen, dabei vielleicht Musik zu hören, später dann zunächst eine kleine Strecke zurückzulegen. Ullmann spricht bei diesen Behandlungen von verhaltenstherapeutischen Übungen.
„Mitunter“, so sagt der Therapeut, „gilt es auch präventiv zu arbeiten.“ Er erzählt von der Pflegekraft, die von Hunden angefallen wurde und jetzt immer etwas Futter dabei hat. Wenn sie zu Pflegenden geht, die sie noch nicht kennt, wirft sie das erst einmal in den Vorgarten um zu sehen, ob da eine Gefahr lauert.
„Was manchmal lustig klingt, trägt aber dazu bei, die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen“, unterstreicht Ullmann.
Er verweist darauf, dass das mitunter auch mit einfachen Mitteln geht. Patienten, denen das traumatische Erlebnis vor dem inneren Auge erscheine, könnten beispielsweise ihr Schlüsselbund kräftig drücken.
„Durch diesen Reiz werden sie ins Hier und Jetzt zurückgeholt.“ Da gebe es eine ganze Reihe von Techniken, die in der Therapie vermittelt würden.
Zum Aktivitätenaufbau gehört auch, dass der Patient den Kontakt zu seinem Arbeitgeber aufnimmt und mit ihm bespricht, wie eine Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess aussehen könnte.
Wie sieht die Betreuung bei körperlich Verletzten aus?
„Wir haben hier ein Team von zehn Psychologen. Das heißt, wir können den Patienten von dem Zeitpunkt, an dem er auf der Intensivstation aufwacht bis zum Abschluss der gesamten Reha-Maßnahmen betreuen“, sagt Ullmann.
Voraussetzung ist, dass es sich um einen Arbeitsunfall handelt, bei dem die Berufsgenossenschaft einspringt. „Ansonsten stehen wir bis zum Abschluss der stationären Reha hier im Haus zur Verfügung“, fügt der Therapeut hinzu.
Ullmann hebt das Zusammenspiel zwischen ärztlichem und psychologischem Personal hervor. Gemeinsam werde beraten, welche Informationen der Patient zum gegebenen Zeitpunkt verkraften könne, ob er überhaupt schon in der Lage sei, Informationen aufzunehmen, welche psychotherapeutische Hilfestellung zu welchem Zeitpunkt nötig sei.
„Es ist eine Seltenheit, dass in Kliniken die psychologische Dimension in so intensiver Weise beachtet wird“, betont er.
Welche Rolle spielt der Umgang mit Schmerzen?
Auch zwischen Psychologen und den Schmerztherapeuten des Hauses gibt es eine enge Kooperation. „Wir arbeiten bei chronischen Schmerzen Hand in Hand“, sagt Ullmann. Es gehe darum, sogenannte schmerzdistanzierende Verfahren zu vermitteln - sprich: Entspannungstechniken bis hin zur Hypnose.
Es geht mitunter nicht nur um seelische oder körperliche Verletzungen, sondern um den Verlust der materiellen Existenz. Welche Rolle spielt das?
„Das spielt eine sehr große Rolle“, sagt Ullmann. Er spricht von „fast suizidalen Krisen“, die entstehen, wenn jemand merkt, das Krankengeld läuft aus, die Ersparnisse sind fast aufgebraucht, seinen Beruf kann er aufgrund der körperlichen Verletzung nicht mehr ausüben. Bei einem Arbeitsunfall stehe die Berufsgenossenschaft bereit. Bei einem Privatunfall nicht.
„Wir versuchen, dass der Patient in der Behandlung neue Perspektiven entwickelt, zum Beispiel es als Glück zu betrachten, sein Kind noch aufwachsen zu sehen“, meint Ullmann. Das sei schwer genug - und oftmals auch nur ein scheinbarer Trost. „Wir alle wissen nicht, wie wir in so einer Situation reagieren würden“, sagt der Psychotherapeut. Es gebe nicht selten Patienten, die wollten nur noch weiterleben, um Frau und Kinder zu schonen. „Das ist dann die letzte Motivation.“
Kann ein entsprechendes Trauma überwunden werden?
„Wer einen schweren Autounfall hatte, der wird Zeit seines Lebens anders in ein Auto steigen als vorher“, sagt Ullmann. Er werde ja immer an den Unfall erinnert beziehungsweise Situationen ausgesetzt, in denen ein erneuter Unfall passieren kann.
Auch der angegriffene Fahrkartenkontrolleur werde immer wieder zurückweichen, wenn ihm jemand zu nahe kommt. Er könnte ja wieder tätlich angegriffen werden.
„Kurzum - sofern man sich mit der entsprechenden Situation wieder konfrontieren kann und die Erlebnisse gut weggesteckt hat, hat man die hohe Chance, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen“, sagt Ullmann. Die meisten Patienten schaffen jedoch mit therapeutischer Hilfe den Weg zurück ins Leben mit dem beruflichen und privaten Alltag. (mz)