Natur Natur: Ein bisschen spazieren? Von wegen!
Halle (Saale)/MZ. - Josef Meißauer schaut skeptisch auf die Sportschuhe der Endvierzigerin. Aber die Frau aus dem Flachland versichert dem Wanderführer, darin besonders gut laufen zu können. Zumal es in den Voralpen am Tegernsee in Bayern auf insgesamt etwa zehn Kilometern nur 350 Meter bergauf gehen soll.
Beschrieben wird die Drei-Stunden-Tour zum Neureuth, dem Hausberg der Tegernseer, mit Schwierigkeitsgrad beziehungsweise Kondition "leicht". Eine Beruhigung für die ungeübte Wanderin. 350 Meter - sie hat keine Erfahrung, was dieser Höhenunterschied auf 1 261 Meter für einen untrainierten Wanderer bedeutet. Dabei ist sie ausgiebige Spaziergänge gewöhnt.
Einen Stock will die Frau unbedingt mitnehmen. Während Meißauer bei den Schuhen nachgiebig ist, setzt er sich bei den Stöcken durch: "Wenn schon, dann beide." Schnell wird noch Wasser verteilt. Dann macht sich die kleine Gruppe vom Hotel "Das Tegernsee" aus auf den Weg. Andere Wandergruppen aus dem Ort haben hier schon die ersten Höhenkilometer geschrubbt, denn das Vier-Sterne-Spa-Hotel liegt atemberaubend fast am höchsten Punkt der Gemeinde im Landkreis Miesbach mit Blick auf den See im Tal und die Berge.
Der farbenfrohe Wald ist in Sicht, auf den Bergkuppen glitzert der erste Schnee, aber zunächst schlängelt sich eine Straße an satten Kuhweiden vorbei. Das erste Mal bleibt die Frau stehen. Keuchend. Starr ist der Blick auf den Weg gerichtet. "Sie machen viel zu große, hastige Schritte", mahnt Meißauer. "Und immer kräftig und gleichmäßig atmen."
Ein Schluck aus der Pulle. "Ist es noch weit?" Horst Trautwein, der eigentlich Chefkoch im Hotel "Das Tegernsee" und nebenbei Wanderleiter ist, antwortet ohne Schnörkel. "Das Schlimmste kommt noch, aber oben warten leckere Spinatknödel!" Die Motivation sei wichtig bei Wanderungen, sagt Trautwein. Und ehrlich solle man bleiben. "Es bringt nichts, wenn es immer wieder heißt: 'Wir sind gleich da'," weiß der Wanderführer vor allem aus Erfahrungen mit Kindern. Also wird noch einmal tief durchgeatmet; den nächsten Anstieg verdeckt zum Glück eine Biegung. Das motiviert.
Alle lassen die Seele baumeln, erfreuen sich am gefärbten Laub, riechen Holz, entdecken Wildkräuter. "Wandern schult normale Sinne", sagt Meißauer. Und tatsächlich: Die Wanderer hören sogar die Stille.
"Gewandert werden kann hier das ganze Jahr über", erzählt Trautwein. Die Wege seien immer gut präpariert. Das Hochgebirgsklima habe ein großes Plus: Von Herbst bis Frühjahr liegt die Zahl der Sonnenscheinstunden um das Dreifache über denen des Tieflandes. Im Winter, sagt Trautwein, nehmen Familien zum Abstieg gern einen der zahlreichen Rodelwege.
Einen Schlitten wünscht sich die keuchende Wanderin jetzt auch. Sie hält per pedes durch. Mit Ach und Krach. Immer wieder stützt sie sich auf die Stöcke, pustet, was das Zeug hält. Im Berggasthaus "Neureuth" angekommen, klopfen ihr die Mitwanderer auf die Schulter. Und sie strahlt. Sie könnte Bäume ausreißen vor Freude. Nichts ist schöner als der Sieg über sich selbst. Ausgepowert, aber unendlich glücklich belohnt der Ausblick bis zur Zugspitze mehr als die leckeren Motivations-Spinatknödel.
Der Rest der Gruppe nimmt noch einmal etwa zehn Kilometer unter die Füße, über einen Hügel hinüber zur Gindelalm auf 1 330 Meter. Die Flachlandtirolerin hört auf den Rat von Wanderführer Meißauer und bleibt an der Berghütte. Der Abstieg nach Tegernsee sollte sowieso noch Kraft kosten. Mit flottem Wadentraining ist das Tal nach insgesamt sechs Stunden wieder erreicht. Die ledernen Sporttreter hatten bis dahin durchaus ihren Dienst getan. Es war ja nicht matschig. Aber das rutschige Laub unterstreicht die Mahnung der Profis: Nie wieder ohne Wanderschuhe!