Musiktherapie für kranke Senioren Musiktherapie für kranke Senioren: Mit der Melodie kommen die Worte

Berlin/Hamburg/dpa. - Der Alzheimer-Patient von Dorothea Muthesius konnte kaum mehr klare Sätze formulieren. Doch als ihm die Musiktherapeutin und Soziologin aus Berlin die ersten Töne des Volksliedes «Am Brunnen vor dem Tore» vorspielte, schmetterte er dessen drei Strophen aus voller Kehle. «Bei vielen Demenzkranken funktioniert das Langzeitgedächtnis noch, es muss nur stimuliert werden», sagt Muthesius. Musik sei dafür der «Königsweg». Dem entsprechend setzen immer mehr Alteneinrichtungen und Hospize bei der Betreuung und Therapie von alten Menschen auf Musik.
«Musik spricht die Emotionen der Menschen direkt an, entspannt, tröstet, motiviert und ist antriebsfördernd», erläutert Muthesius. Professor Hermann Rauhe geht noch einen Schritt weiter: «Musik und Rhythmus bestimmen unser ganzes Leben», sagt der Präsident der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Schließlich sei der Herzschlag der Takt des Lebens, der Atem sei rhythmisch geprägt, und selbst durch das Gehirn liefen rhythmische Schwingungen und Wellen. Zudem erfasse Musik Körper, Geist und Seele. «Diese Ganzheitlichkeit ist das Besondere», ist Rauhe überzeugt.
Als «Brückenschlag» zu Emotionen und Erinnerungen bezeichnet die Leiterin des Musiktherapie Instituts Rendsburg (Schleswig-Holstein), Carmen Greiser, die Musik. «Alte und kranke Menschen merken oft, dass sie kaum noch etwas können.» Wenn sie dann eine Melodie erkennen oder sich gar an den Text erinnern, stärke dies das Selbstwertgefühl enorm und schaffe neue Lebensqualität. «Emotionen, die lange Zeit brach lagen, werden geweckt», so Muthesius.
Bereits im Jugendalter machen die meisten Menschen nach Worten von Professor Rauhe ihre prägende Musikerfahrung. Und genau das nutzen die Musiktherapeuten. Denn die wenigsten Menschen verbinden mit Musik schlechte Erinnerungen, hat Muthesius beobachtet. Die geweckten Emotionen und Erinnerungen ermöglichten in vielen Fällen selbst zu ansonsten in sich zurückgezogenen Patienten Zugang.
«Wichtig allerdings ist, dass das Musikstück eine bestimmte Bedeutung für den jeweiligen Patienten hat», sagt Rauhe und erzählt von einem Patienten: «Der Mann war pensionierter General, der nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt war und kaum noch Regungen zeigte.» Auf Märsche habe er nicht reagiert. Erst bei dem Schlager «Oh Donna Clara» habe plötzlich ein Bein gezuckt. «Der Mann strahlte, und der Fuß fing an, sich behutsam zu bewegen», erzählt Rauhe. «Diese Schnulze war der Schlüssel. Die Erinnerung und der Rhythmus haben dann seine Motorik aktiviert.» Von der Ehefrau des Generals wusste Rauhe, dass sich die beiden bei diesem Lied kennen gelernt hatten.
«Musik ist Ausdruck der Befindlichkeit», hat Carmen Greiser beobachtet. Schließlich wähle fast jeder beim Musikhören automatisch eine CD aus, die zu seiner aktuellen Stimmung passt. «Somit wenden die meisten Menschen ganz automatisch eine Art Musiktherapie an». Die Therapeutin warnt Angehörige jedoch davor, kranken Menschen einfach Musik aufzulegen und sie dann sich selbst zu überlassen. «Dabei werden sie mit ihren Emotionen und Erinnerungen alleine gelassen.» Bei Senioren komme dazu das Problem, dass sie oft nicht in der Lage sind, einen CD-Spieler wieder auszuschalten, so Muthesius. «Bloße Beschallung erreicht die Menschen nicht, sondern benebelt nur.»
Musiktherapie verschafft nicht nur den Patienten Lebensqualität, sie ermöglicht auch Angehörigen und Pflegern einen Zugang zu den Kranken. «Pflegende Partner, Kinder oder Enkel erfahren dadurch oft eine neue und tiefe Gemeinschaft mit den teils völlig apathischen Menschen», erklärt Greiser. Möglichkeiten aufzuzeigen, wie mit diesen Gefühlen umgegangen werden kann, ist Aufgabe der Musiktherapeuten.
Welche positive Wirkung Musik auf schwerst Demenzkranke haben kann, erlebt die Ergotherapeutin Adelheid Reiners beinahe täglich. In Hilden (Nordrhein-Westfalen) leitet sie den Sozialtherapeutischen Dienst in einem Altenkrankenheim. «Wir singen oft ganz spontan und versuchen, gar nicht so geplant das eine oder andere Lied anzustimmen.» Zusammen mit zwei Mitarbeiterinnen testet sie dann, auf welche Lieder die Senioren «anspringen». «Vor allem Volkslieder und Operetten kommen oft gut an», erzählt sie. Die Freude einer halbstündigen Singrunde dauere oft tagelang an. Das wirke sich auf die gesamte Atmosphäre im Heim aus.
Manchmal kullern jedoch auch Tränen: «Viele werden melancholisch, weil durch die Musikstücke Erinnerungen an vergangene Tagen kommen», weiß Reiners, die seit 20 Jahren in der Altenpflege arbeitet. Doch auch das Wecken dieser Erinnerungen sei für die Menschen wertvoll. Reiners berichtet von einer geistig sehr verwirrten ehemaligen Klavierspielerin. «Durch Gespräche mit der Familie habe ich erfahren, dass Klavierspielen ihr Leben bedeutete, und irgendwann haben wir gemeinsam im Heim ein kleines Konzert gegeben - sie am Klavier, ich mit der Altflöte.» Nie zuvor sei die alte Dame so glücklich gewesen.