Lebenserwartung im Wandel der Geschichte Lebenserwartung im Wandel der Geschichte: Warum Männer nicht so lange leben wie Frauen
Halle (Saale) - Männer erwartet derzeit bei der Geburt ein etwa fünf Jahre kürzeres Leben als Frauen. Dieser Unterschied hat sich im Laufe der Geschichte häufig verändert. Professor Martin Dinges, stellvertretender Leiter und Archivar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart, hat analysiert, welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Mit Dinges, der auch Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Stiftung Männergesundheit ist, sprach Bärbel Böttcher.
Herr Prof. Dinges, ab welchem Zeitpunkt sind genaue Aussagen über die Lebenserwartung der Menschen möglich?
Dinges: Das beginnt schon im ausgehenden 18. Jahrhundert. Eine solide statistische Grundlage ist allerdings erst mit der Einführung der Bevölkerungsstatistik Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben.
Und wie sieht die Lebenserwartung zu dieser Zeit aus?
Dinges: Um 1850 werden in Deutschland sowohl Frauen als auch Männer ungefähr 40 Jahre alt. In den folgenden Jahren bis 1880/90 sinkt die Lebenserwartung bei beiden Geschlechtern. Bei den Männern auf 36 Jahre, bei Frauen auf 39 Jahre. Damit ergibt sich zum ersten Mal ein deutlicher Unterschied.
Wie ist der zu erklären?
Dinges: Es handelt sich um die erste Phase der Industrialisierung. Sie stellt vor allem an die Männer extreme Anforderungen. Viele pendeln zu ihren Arbeitsplätzen, die noch recht primitiv sind. Sie sind in Baracken untergebracht. Die Wasserversorgung ist schlecht, dementsprechend sind die hygienischen Verhältnisse. Die Männer, die in ihren Baracken hausen, greifen häufig zum Alkohol, sie prügeln sich. Es gibt also viele Gründe, warum die Frauen in Sachen Lebenserwartung davonziehen. Das Gleiche passiert dann übrigens noch einmal in der Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Offensichtlich liegt die Wiederaufbaulast stärker bei den Männern. Die Frauen leben zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre länger als die Männer.
Das ist aber noch nicht der Endpunkt.
Dinges: Nein, der Höhepunkt der Geschlechterunterschiede bei der Lebenserwartung ist Anfang der 80er Jahre - sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR. Der Unterschied beträgt nun 6,7 Jahre.
Aber gerade in der Bundesrepublik war das die Zeit, in der sich die Lebensbedingungen permanent verbesserten. Warum kommt es gerade da zu dem großen Abstand?
Dinges: In den 60er bis 80er Jahren kommt es einerseits zu einer Restaurierung des alten Geschlechtermodells der Arbeitsteilung. Frauen, die während des Krieges und unmittelbar danach den Platz der Männer eingenommen hatten, werden nun zurück an den Herd geschickt. Wenn überhaupt, arbeiten sie höchstens halbtags. Männer arbeiten ganztags, sie leisten oftmals Überstunden und es gibt auch noch sehr viele industrielle Arbeitsplätze mit einer hohen Schadstoff-Belastung. Hinzu kommen aber auch noch individuelle Faktoren.
Welche sind das?
Dinges: Es gibt zu dieser Zeit noch einen markanten Unterschied im Rauchverhalten. Die Zigarettenindustrie wirbt zwar intensiv um Frauen, aber die Männer rauchen wesentlich mehr. Das ist der Hauptkiller von Lebenszeit. Ein weiterer wichtiger Punkt, der die Übersterblichkeit der Männer von 1960 bis 1985 erklärt, ist ihre hohe Beteiligung am Straßenverkehr - und zwar insbesondere so lange, wie es keine Leitplanken gibt. Sie sind überproportional häufig in Unfälle verwickelt. Nicht, weil Männer etwa schlechter als Frauen fahren, sondern weil sie doppelt so viele Kilometer im Jahr zurücklegen. Und auch fast alle Berufskraftfahrer sind Männer. Das trifft übrigens bis heute zu. Und dann spielt in der ersten Wohlstandswelle auch die recht deftige und fette Ernährung eine Rolle. Bei den Männern stärker als bei den Frauen.
Gibt es Besonderheiten in der DDR?
Dinges: In der DDR kommt insbesondere ein massiver Alkoholkonsum zum Tragen. Es wird hauptsächlich Schnaps getrunken - von Männern und Frauen. In der Bundesrepublik ist es mehr Bier. Und auch die Menge, die getrunken wird, ist in der DDR wesentlich höher.
Seit Mitte der 80er Jahre gleicht sich die Lebenserwartung an. Heißt das, die Männer leben jetzt gesünder?
Dinges: Ich würde eher sagen, die Männer sind Emanzipationsgewinnler. Frauen nehmen heute auch alle sogenannten negativen Freiheiten für sich in Anspruch. Sie rauchen beispielsweise viel stärker als früher. Bereits Ende der 90er Jahre haben mehr 14- bis 15-jährige Mädchen als Jungen angefangen zu rauchen. Als Männlichkeitsmarker hat das Rauchen dagegen seine Bedeutung verloren.
Es bleiben aber immer noch gut fünf Jahre Unterschied in der Lebenserwartung. Wie sind die zu erklären?
Dinges: Was bleibt, ist die hohe Risikoorientierung vor allem von jungen Männern zwischen Pubertät und Paarbildung. Es ist die Zeit des sich Ausprobierens. Es ist zudem gesellschaftlich erwünscht, dass junge Männer lernen, Risiken auf sich zu nehmen. Die gefährlichsten und die am stärksten gesundheitsschädlichen Berufe werden praktisch ausschließlich von Männern ausgeübt. 92 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle betreffen Männer. Auf der Liste der Berufe, die am häufigsten zu einer Frühverrentung führen, kommt auf Platz 19 die Krankenschwester. Ansonsten handelt es sich um Männerberufe. Und bei aller Emanzipation: Wir haben nach wie vor eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die massive negative Gesundheitsaspekte für Männer hat.
Das heißt?
Dinges: Vor allem im Westen lebt das traditionelle Familienmodell weiter: Der Mann arbeitet ganztags, die Frau, die sich um die Kinder kümmert, halbtags. Männer machen viele Überstunden, was gesundheitsgefährlich ist. Sie meinen, das sei ihre Aufgabe als Ernährer der Familie. Den häuslichen und Erziehungsaufgaben entziehen sie sich phasenweise. Frauen setzen dagegen auf zwei Pferde: Familie und Beruf.
Vor dem Hintergrund der Lebenserwartung und der gesundheitlichen Situation der Männer müsste sich die Medizin eigentlich stärker für sie interessieren. Warum tut sie das nicht?
Dinges: Das ist die alte schlechte Tradition der Medizin. Spätestens seit der Antike findet sie die Frauen interessanter, weil sie die Kinder kriegen. In der Zeit der Aufklärung herrscht dann die Vorstellung vor, Frauen seien eher naturbestimmt und deshalb krank. Männer seien vernunftgeleitet und deshalb gesund und stark. Das führt dazu, dass sich die Mediziner das ganze 19. Jahrhundert damit beschäftigen, das schwache Geschlecht als Idee und Konzept auszuarbeiten. Hinzu kommt, dass Männer als das Allgemeine und Frauen als das Besondere angesehen werden. Das heißt, die Geschlechterspezifik von Männern wird jenseits Urogenitaltrakts nie zum Thema gemacht.
Wann ändert sich das?
Dinges: Erst mit der Infragestellung der Medizin durch die Frauengesundheitsbewegung in den 70er Jahren. Aber es dauerte fast noch einmal eine Generation, bis man auf die Idee kommt, zu sagen: Wenn wir uns jetzt speziell mit den Frauen beschäftigen, könnte es ja sein, dass es auch bei den Männern Besonderheiten gibt.
Ist das jetzt in der Medizin angekommen?
Dinges: Die Medizin ist durch den jahrhundertealten Diskurs geprägt und bis heute eigenartig geschlechtsblind. Dass es bei Männern Besonderheiten gibt, ist insgesamt zu wenig drin in den Köpfen. Und das führt zu Fehldiagnosen bei Frauen und Männern. Frauen haben angeblich keinen Herzinfarkt, sondern komische Schmerzen, Männer angeblich keine Depressionen, sondern Rückenschmerzen. Da wird nach dem Funktionalen gesucht. Bei Frauen eher nach dem Psychischen. Immer noch. Aber einige Vorreiter(innen) beginnen umzudenken.
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