Kontroll-Ticks Kontroll-Ticks: Wenn Zwänge den Alltag bestimmen
München - Sie gelten als Menschen mit übertriebenem Hang zur Kontrolle und komischen Marotten. Aus Angst ausgelacht zu werden, behalten sie ihr Problem meist so lange wie möglich für sich und stehen allein dadurch unter enormem Druck: Zwangsgestörte leiden an aufdringlichen und unkontrollierbar erscheinenden Zwangsgedanken. Die veranlassen sie meist dazu, bestimmte Handlungen immer wieder auszuführen.
„Sie kontrollieren vielleicht 20 oder 30 Mal, ob der Herd ausgestellt ist, weil sie Angst haben, sie könnten es doch vergessen haben und damit etwas Schlimmes verursachen“, erläutert Angelika Erhardt, Oberärztin der psychiatrischen Ambulanz am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. Dabei seien sie sich der Unsinnigkeit und Sinnlosigkeit dieser Gedanken und Handlungen zwar bewusst. Es gelinge ihnen aber trotzdem nicht, sie zu unterbinden.
Ursachen für eine krankhafte Zwangsstörung
„Etwa zwei von 100 Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Zwangsstörung im krankhaften Sinne“, sagt die Neurowissenschaftlerin. Dazu tragen viele Faktoren bei. Erbliche Veranlagung spiele eine Rolle, vor allem seien aber auch einschneidende Lebensereignisse und negative Kindheitserfahrungen, zum Beispiel eine von Druck und hohen Leistungsanforderungen geprägte Erziehung, relevant.
Kontrollzwänge sind eine häufige Form von Zwangserkrankungen. Aber auch Waschzwänge, Zählzwänge, Ordnungszwänge oder Krankheitsverläufe, die mehrere Zwänge einschließen, sind möglich. Auch Arne Schätzig (Name geändert) gehört zu letzterem Kreis. Nach einer vorübergehenden Phase mit Waschzwängen entwickelt er Kontrollzwänge, die ihn mehr und mehr beeinträchtigten.
Immer neue Bereiche von Zwängen erfasst
Schätzig kontrollierte Wasserhahn, Föhn oder andere elektrische Geräte. „Am Anfang waren dies eher vereinzelte kleinere Vorsichtsmaßnahmen, wie etwa ein zweites Mal hinzuschauen“, erzählt der Familienvater. Mit der Zeit entwickelten sich Alltagsverrichtungen zu einer regelrechten Gefahrenkaskade, die endlose Kontrollschleifen nach sich zogen. Immer neue Bereiche seines Lebens wurden von den Zwängen erfasst. „Ich habe nicht mehr geglaubt, dass ich die Autotür zugemacht oder beim Handy das Internet deaktiviert habe und befürchtete, die Kosten könnten aus dem Ruder laufen“, sagt er.
In dieser Phase seiner Erkrankung verbrachte Schätzig bis zu einer Stunde am Tag mit Kontrollgängen, kam manchmal zu spät zur Arbeit und musste sich mit Ausreden behelfen. „Das Schlimmste war, dass mich dieses Gefühl der Angst und der Anspannung, es könnte irgendwas passiert sein, den ganzen Tag lang verfolgt hat.“ Die Spitze des Eisberges bei ihm waren Zwangsgedanken, die völlig unabhängig von realen Ereignissen auftraten und ihn auch moralisch an die Grenze des Erträglichen brachten. Arbeiten und am Familienleben teilnehmen konnte er phasenweise gar nicht mehr.
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Der Verlauf bei Arne Schätzig ist typisch. Unbehandelt führen Zwangserkrankungen häufig in eine Abwärtsspirale mit immer stärker werdendem Leidensdruck. „Die wichtige Botschaft an die Betroffenen ist, dass man Zwänge heute sehr gut behandeln kann. Man ist ihnen nicht hilflos ausgesetzt“, sagt Prof. Ulrich Voderholzer, ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck, Fachklinik für psychische und psychosomatische Erkrankungen, in Prien am Chiemsee. Am aussichtsreichsten sei eine speziell auf Zwangserkrankungen ausgerichtete Verhaltenstherapie, die eine Reizkonfrontation einschließt. Dabei erlernen Betroffene, sich den zwangsauslösenden Reizen auszusetzen, ohne ihre Zwangsrituale auszuführen.
Spezielle Psychopharmaka, sogenannte Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, stellen eine weitere Behandlungsoption dar. „Sie sind aber nur zweite Wahl. Die Verhaltenstherapie ist die wirksamere Methode“, betont Voderholzer. Die Zwänge verschwinden meist nicht ganz, lassen sich aber häufig auf ein so geringes Maß reduzieren, dass sie den Alltag nicht mehr beeinträchtigen. Je früher die Behandlung beginnt, umso besser sind die Erfolgsaussichten.
Im Schnitt sechs Jahre bis zur Diagnose
Es dauere jedoch im Durchschnitt sechs Jahre, bis die Diagnose überhaupt gestellt werde, sagt Voderholzer. Neben der großen Scham, die Betroffene wegen ihrer Zwänge empfinden und daher erst spät oder gar nicht zum Arzt gehen, sei auch der Mangel an für Zwangsstörungen qualifizierten Therapeuten ein Problem. Viele Zwangserkrankte erhalten daher keine oder eine nur unzureichende Behandlung.
Die Terminkalender spezialisierter Kliniken und Praxen sind oft auf lange Sicht voll. „Manche Patienten bekommen gesagt, sie sollen wegen eines Termins in einem Jahr noch mal anrufen“, sagt Antonia Peters, Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen. Sie und ihre Kollegen unterstützen Betroffene bei der Arztsuche und dabei, rechtzeitig in Behandlung zu kommen. Patienten sollten unbedingt den Mut haben, sich zu öffnen und möglichst schnell eine Behandlung angehen, betont Peters.
Auch für Arne Schätzig waren es entscheidende Wendepunkte, dass er sich seiner Frau und anderen Menschen geöffnet und so letztlich einen guten Therapeuten und eine zielgerichtete Verhaltenstherapie gefunden hat. Seine Zwangserkrankung beschäftigt ihn heute nur noch etwa eine Stunde in der Woche. (dpa/tmn)