Hypochondrie Hypochondrie: Wenn die Angst vor der Krankheit krank macht

Heidelberg/Düsseldorf/dpa. - «Sie haben nichts», hat Rainer Heck schon von einigen Ärzten gehört. Dennoch ist der 51-Jährige aus Reichelsheim im Odenwald seit Jahren chronisch krank. Seine Krankheit ist die Angst davor, krank zu werden: Hypochondrie.
Etwa vier bis sechs Prozent aller Hausarztpatienten leiden unter hypochondrischen Störungen, schätzt der Privatdozent und Oberarzt Peter Henningsen von der Psychosomatischen Abteilung des Universitätsklinikums Heidelberg. Allen Betroffenen gemeinsam ist, dass sie über einen längeren Zeitraum davon überzeugt sind, an einer schweren Krankheit zu leiden - obwohl die Untersuchungen keine Hinweise auf eine organische Erkrankung liefern.
«Betroffene empfinden zwar eine kurzfristige Erleichterung über die Untersuchungsergebnisse», so Henningsen. Doch bald schon zweifeln sie die Diagnose an und wenden sich an andere Ärzte. «Charakteristisch für die Krankheit ist die Unfähigkeit des Patienten, sich von seiner Gesundheit überzeugen zu lassen», sagt Norbert Hartkamp, Oberarzt in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Rheinischen Kliniken in Grafenberg/Düsseldorf. Die Schmerzen und Beschwerden der vermuteten Krankheit sind dabei keine Einbildung, sondern werden tatsächlich auch erlebt.
Rainer Heck kann sich an den ersten vermeintlichen Herzinfarkt mit 24 Jahren noch allzu gut erinnern: Schmerzen in der Brust, Herzrasen, Schwindelgefühl. Die Symptome waren für ihn eindeutig. Selbst die unauffälligen kardiologischen Tests konnten ihn nur für kurze Zeit beruhigen. «Die Attacken kamen bald wieder», so Heck. Bald traute sich der Angestellte im Außendienst nicht mehr auf wenig befahrene Landstraßen - er fürchtete, nach einem Infarkt keine Hilfe zu finden. Seinen Urlaub buchte er nicht dort, wo die Strände am schönsten sind, sondern dort, wo eine Klinik nicht weit war.
Heck wechselte die Ärzte, die ihn immer seltener beruhigen konnten, deckte sich mit medizinischen Fachbüchern ein, machte sogar ein Praktikum in einer Klinik. Bald wusste er alles über Herzerkrankungen, aber nichts über seine eigentliche Krankheit - die hypochondrische Störung.
Diese Störungen treten häufig erstmals im jungen Erwachsenenalter auf und betreffen meist Krankheiten, die schwer oder gar nicht heilbar sind: Etwa die Angst vor Tumoren, Aids oder Multipler Sklerose. Als harmlosere Variante - da meist nur vorübergehend - gilt der so genannte Morbus Clinicus bei Medizinstudenten. «Diese Betroffenen befürchten etwa nach einem Dermatologie-Kurs, an Hautkrebs zu erkranken, oder leiden nach dem Kardiologie-Kurs an Herzängsten», so Hartmut Kanwischer, Chefarzt der Abteilung Psychosomatische Medizin im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Tiefenbrunn bei Göttingen.
Auslöser der hypochondrischen Erkrankung können ein einschneidendes Erlebnis wie der Tod eines Angehörigen, berufliche Probleme oder auch eine Beförderung sein, so Kanwischer. Ohne dies bewusst zu planen, werden Betroffene durch den Rückzug in die Krankheit entlastet: Nun wird ihnen eine Auszeit zugestanden, sie erhalten von Angehörigen und Freunden Anteilnahme und Schonung. Ärzte sprechen von einem «Krankheitsgewinn», für den Erkrankte einen starken Verlust an Lebensqualität in Kauf nehmen. «Dieser Rückzug ist aber keinesfalls strategisch angelegt», betont Kanwischer.
Außerdem wird für den Patienten durch die Krankheit eine verborgene Konfliktsituation plötzlich fassbar. «Betroffene spüren meist etwas Bedrohliches, können es aber nicht identifizieren», so Hartkamp. Der hypochondrische Patient glaubt nun die Ursache des Konfliktes ausgemacht zu haben: die vermeintliche, unheilbare Krankheit. Für den Patienten wäre dies die einfachste Methode die Konfliktsituation zu meistern: Er kann sich passiv verhalten, jetzt müssen Mediziner das Problem bekämpfen.
Eine Therapie hypochondrisch Erkrankter erweist sich oft als schwierig. «Schließlich dauert es im Schnitt sieben bis acht Jahre, bis eine spezifische Behandlung der Patienten erfolgt», so Kanwischer. Der für die Therapie wichtige auslösende Moment liegt dann schon einige Jahre zurück. «Zudem erhält der Betroffene nach langem Suchen der Ärzte den Eindruck, auf ein Abstellgleis gefahren zu werden», so Kanwischer.
Ein wichtiger Punkt sei deshalb die psychosomatische Grundversorgung des Patienten durch den Hausarzt. Hausärzte sollten den Patienten nicht nur den unaufälligen Befund mitteilen, sondern vor allem verständlich machen, dass nicht jede geringe Abweichung gleich als Krankheitssymptom zu deuten sei, so Kanwischer. Ein schwieriges Unterfangen - schließlich finden Betroffene im Internet für jede körperliche Regung eine unheilbare Krankheit, die von Ärzten scheinbar nicht erkannt werden könne.
Bei schwereren hypochondrischen Störungen kann oft nur eine Psychotherapie helfen. In den Therapiestunden soll der Konflikt, der zur Erkrankung führt, aufgespürt werden. «Im besten Fall kann der Patient von den Ängsten befreit werden», weiß Kanwischer. Oder er kann zumindest die Lebenssituation erkennen, in denen die Angst wieder auftaucht.
Bei Rainer Heck waren zwei Therapien erfolglos. Irgendwann hat er sein Schicksal selbst in die Hand genommen und eine Selbsthilfegruppe gegründet. Heute engagiert er sich ehrenamtlich und ist politisch aktiv. «Je mehr ich mache, desto besser geht es mir», beobachtet Heck. Tatsächlich werden die vermeintlichen Herzattacken seltener. «Noch bin ich nicht durch, aber auf einem guten Weg», sagt er.