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Interview zur Ernährung Heiner Boeing im Interview: Low Carb no carb Glyx-Formel oder Currywurst - was ist gesund?

04.05.2016, 18:25
Obst und vor allem Gemüse darf reichlich verzehrt werden.
Obst und vor allem Gemüse darf reichlich verzehrt werden. dpa

Halle (Saale) - In der MZ-Serie dreht sich alles um die Gesundheit. Heute: Was darf ich überhaupt noch essen? Welche Lebensmittel senken das Risiko für Erkrankungen? Das erforscht Professor Dr. Heiner Boeing vom Institut Potsdam-Rehbrücke.

Herr Professor Boeing, können Sie als Ernährungswissenschaftler guten Gewissens in eine Currywurst beißen?
Prof. Dr. Heiner Boeing: Ja klar.

Aber gesund ist das nicht.
Boeing: Mitunter ist nicht entscheidend was, sondern auch wie viel davon gegessen wird. Es spricht nichts gegen eine Currywurst. Aber sie sollte nicht jeden Tag auf dem Speiseplan stehen.

Was ist denn gesunde Ernährung?
Boeing: Das kann unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Da sind zum einen die Kultur und Tradition, die wir mit einem gesundendem  Essen verbinden, das uns auch geschmacklich angenehm ist. Zum anderen geht es um die Lebensmittelsicherheit, also darum, dass das, was wir zu uns nehmen, keine schädlichen Substanzen enthält. Der dritte Gesichtspunkt bei einem gesunden Essen ist die Bevorzugung von Lebensmitteln, die mit abgesenkten Erkrankungsrisiken verbunden sind. Mit diesen Fragen beschäftige ich mich wissenschaftlich.

Und was haben Sie herausgefunden?
Boeing:  Es haben sich drei Faktoren herausgeschält, von denen wir aus wissenschaftlichen Langzeitbeobachtungen wissen, dass sie  mit dem  Risiko für mehrere Erkrankungen verbunden sind.  An erster Stelle ist  der Faktor  ballaststoffreiches Getreide zu nennen, das mit einem abgesenkten Risiko verbunden ist.  Backwaren aller Art sollten daher einen  hohen Ballaststoffgehalt besitzen, soweit das möglich ist.   Allerdings - auf das in den Haushalten und im Bäckerhandwerk bevorzugte Mehl vom Typ 405 trifft das nicht zu. Daher könnte das meiste Gebäck, das wir zu uns nehmen, mehr Ballaststoffe vertragen, ohne dass der Geschmack darunter leidet.

Was bewirken diese Ballaststoffe?
Boeing: Es gibt viele Hinweise, dass sie das Risiko für  Diabetes, für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Dickdarmkrebs senken.

Was ist der zweite Faktor?
Boeing: Eine ganz wichtige Komponente stellen Obst und Gemüse dar. Obst und Gemüse sind in der Regel energiearme Lebensmittel. Anders ausgedrückt: Sie machen uns satt, ohne dass wir zu viele Kalorien aufnehmen.   Es konnte gezeigt werden, dass Obst und  Gemüse mit einer im Vergleich geringeren  Gewichtszunahme verbunden sind. Sie schützen vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs. 

Muss man zwischen Obst und Gemüse nicht noch einmal differenzieren? Schließlich enthält Obst viel Zucker.
Boeing: Wer Obst isst, nimmt auch Energie zu sich. Manchmal  mehr als mit Gemüse.  Das ist schon richtig. Es empfiehlt sich deshalb, Obst nicht zusätzlich zu einer Mahlzeit zu essen, sondern es in die Mahlzeit zu integrieren. Letztlich sollte der Schwerpunkt schon auf dem Gemüse liegen. Aber ganz streng differenzieren würde ich da nicht, da die epidemiologischen Daten dies nicht zeigen.

Gibt es eine Garantie für Gesundheit?

Es ist also schon besser, wenn abends noch einmal Appetit aufkommt, einen Apfel statt eines Schokoriegels zu essen?
Boeing:  Genau das sind die Alternativen. Beides gleichzeitig ist nicht zu empfehlen. Allerdings - wenn es  um  die Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen geht, dann  spricht auch nichts gegen  Schokolade. Dunkle Schokolade wohlgemerkt.  Es ist durch Studien erwiesen, dass einzelne Bestandteile des Kakaos   der Arterienverkalkung vorbeugen. Das gleiche gilt auch für die Nüsse. Es handelt sich in beiden Fällen um sehr  energiereiche Lebensmittel, trotzdem wirken sie positiv. Allerdings reichen jeweils kleine Mengen. Denn diese Lebensmittel können in größeren Mengen auch dick machen.

Sie sprachen eingangs von drei Faktoren. Was ist der dritte?

Boeing: Da geht es um den Fleischkonsum, der maßvoll sein sollte. Besonders bei Fleischerzeugnissen - sprich: Wurst - ist es angebracht, Zurückhaltung zu üben. Fleisch erhöht das Risiko, an Krebs zu erkranken. Aber wie gesagt: Es spricht nichts dagegen, ab und zu ein Schinkenbrot oder eine Currywurst zu essen. Die Masse macht es.

Wenn ich das nun alles beachte, habe ich dann eine Garantie, gesund zu bleiben?
Boeing: Nein. Wir können alles richtig machen, und trotzdem an etwas erkranken, was wir unbedingt vermeiden wollten. Wir können die Zukunft nicht vorhersagen. Aber wir können aufgrund der wissenschaftlichen Untersuchungen sagen, wie durch bestimmte Verhaltensweisen Risiken minimiert werden. Ausschließen können wir eine bestimmte  Krankheit nicht. Eine Krankheit hat ja  auch nicht nur eine Ursache. Und sie kann, wenn sie denn auftritt, in der Regel auch nicht auf eine ganz bestimmte Ursache zurückgeführt werden.

Lebensmittel stehen rund um die Uhr in Hülle und Fülle zur Verfügung. Und vielen Menschen ist das Sättigungsgefühl abhandengekommen. Warum?
Boeing: Es ist ein hochkomplexes System im Gehirn, das normalerweise Hunger und Sättigung regelt. Aber mittags um 12 Uhr wirkt bei vielen der  Pawlowsche Reflex:  Wenn die Glocke läutet, gibt es Futter. Sie gehen  in die Kantine. Wobei sich die Frage stellt, was dominiert jetzt - der Hunger oder die Tatsache, dass alle losgehen und sich  niemand  ausschließen will, weil am Tisch ja auch miteinander geredet wird? Sicher ist es oftmals eine Mischung aus beidem. Aber man kann sich so  konditionieren, dass man isst, obwohl man gar keinen Hunger hat.

Also geht es  beim Essen um mehr, als um  Nahrungsaufnahme?
Boeing: Ja, es geht nicht nur darum, dem Körper Energie zuzuführen. Auch wenn  wir beispielsweise ein Restaurant besuchen, dann hat das eine soziale Dimension. Man könnte sagen, es handelt sich um ein Genuss-Event. Dabei  wird gegessen, obwohl gar kein Hungergefühl besteht.   Aber es wäre   fürchterlich, wenn wir uns auch in solch einer Situation  ständig kontrollieren würden.

Das Problem namens Übergewicht

Mitunter hat man aber schon das Gefühl, Essen wird zum Stress. So mancher fragt sich, was kann ich denn überhaupt noch ohne Reue zu mir nehmen?
Boeing: Unser größtes Problem ist das Übergewicht. Pro Jahr nimmt jeder Deutsche im Durchschnitt ein viertel Kilogramm zu. Es ist bekannt, dass das der Gesundheit nicht gerade förderlich ist. Und es ist auch bekannt, dass die Pizza mit Freunden am Abend der Figur nicht zuträglich ist. Trotzdem sollt man eine gewisse Gelassenheit an den Tag legen. Es gibt eben Gelegenheiten, bei denen der Genuss und nicht die Energiezufuhr im Mittelpunkt steht. Ich muss diesen Tag des Vielessens dann aber wieder kompensieren - durch zwei, drei Tage, an denen ich bewusst weniger esse, an denen ich warte, bis ein Hungergefühl auftritt. Im Kopf wissen das die Menschen. Das auch in die Praxis umzusetzen, ist oft ganz schwierig. Die Mechanismen, die zu Hunger und Sättigung führen, die können ganz schnell überlistet werden.

Sie sprachen es gerade an,  Übergewicht ist ein großes Problem. Nun gibt es viele Ernährungsratgeber: low carb, no carb, essen nach der Glyx-Formel oder wie die Steinzeitmenschen. Was halten Sie davon?
Boeing: Das zeigt, dass das Thema Ernährung immer wichtiger wird. Immer mehr Menschen setzen sich damit auseinander. Und viele  müssen sich auch damit  auseinandersetzen, um nicht völlig die Form zu verlieren. Sie sind möglicherweise auf der Suche nach einem Weg. Die vorgeschlagenen Wege sind allerdings nicht die, die ein Ernährungswissenschaftler als optimal bezeichnen würde.  Diejenigen, die eine bestimmte Ernährungsweise propagieren, nehmen oft einen ganz spezifischen Blickwinkel ein. Oft ist das auch mit kommerziellen Interessen verbunden.

Woran kann sich der Verbraucher denn orientieren?
Boeing: Es gibt seriöse Ernährungsfachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Sie ist relativ konservativ, springt nicht gleich auf jeden neuen Trend auf. Hinter ihr steht die gesamte Ernährungswissenschaft.  Aber sie ist eben nur eine Stimme im Chor.

Und diese Vielstimmigkeit verunsichert die Menschen.
Boeing: Das kann ich gut verstehen. Daran wird sich aber nichts ändern, solange es darüber keine gesellschaftliche Debatte gibt. Wir brauchen ein Ernährungsleitbild. Wo wollen wir eigentlich hin? Und daraus können dann konkrete Aktionen abgeleitet werden.

Zum Beispiel?
Boeing:  Wir haben da bisher in Deutschland wenig ausprobiert. Andere Länder haben  beispielsweise eine Fett- oder Zuckersteuer eingeführt.  Es gibt viele Möglichkeiten, auf Probleme zu reagieren. Voraussetzung dafür ist, das Problem erst einmal zu benennen und gemeinsam dafür Lösungen zu finden. (mz)

Nächste Folge: Wie Vegetarier und Veganer leben