«Fit statt Fett» «Fit statt Fett»: Was hilft den Dicken?
Halle/MZ. - Wichtigster Ansatz: Die Erziehung der Kinder zu gesunder Ernährung und Bewegung. Wir sprachen mit dem Experten Ingo Froböse.
Sind die Deutschen wirklich die Dicksten in Europa?
Froböse: Ich glaube, das ist zu pauschal gesagt. Wissenschaftlich korrekt ist bei dieser Statistik nicht unbedingt gearbeitet worden, denn es gibt ganz bestimmte Zielgruppen, die in Deutschland nicht berücksichtigt wurden, in anderen Ländern aber schon. Zum Beispiel hat man in Deutschland die 20- bis 30-Jährigen nicht einbezogen. Nun sind das aber in der Regel meistens noch sportliche, junge Menschen. Logisch, das die ältere Zielgruppe, die man statt dessen einbezogen hat, im Vergleich zu anderen Ländern den Schnitt hebt.
Dennoch bleibt unbestritten, dass die Deutschen zu viele Pfunde mit sich herum schleppen und sich zu wenig bewegen. Was ist da schief gelaufen?
Froböse: Wir haben jährlich etwa 600 000 Tote in Europa durch Bewegungsmangel. Deutschland befindet sich in "guter Gesellschaft". Dieser Bewegungsmangel resultiert daraus, das wir eine Umwelt geschaffen haben, die nicht zu unserer genetischen Prädisposition passt. Diese besagt, dass wir für unser Leben eine ganz bestimmte Stoffwechselsituation brauchen, von der wir herausgefordert werden. Diese Herausforderungen fehlen inzwischen. Wir haben nach der Industrialisierung, um 1900 etwa, einen Prozess erlebt, bei dem körperliche Aktivitäten immer mehr zurück gingen. Vorher wurden durch harte, intensive Arbeit 80 bis 90 Prozent des menschlichen Energiebedarfes mit eigenen Händen geschaffen. Derzeit sind wir bei ein bis zwei Prozent. Gerade mal 400 bis 500 Meter gehen die Deutschen durchschnittlich pro Person, pro Tag. Auf der anderen Seite leben wir, was die Ernährung angeht, im Schlaraffenland. Das bedeutet: zu viel Energie durch Nahrungsaufnahme und zu wenig Kompensation über die Bewegung. Essen und Trimmen - beides muss stimmen.
Was muss nun aus ihrer Sicht passieren, um diese Entwicklung zu stoppen?
Froböse: Ich glaube nicht, das es viel bringt, wenn eine Bundesregierung, die das Vorbild noch nicht einmal lebt, nun daher kommt und sagt, ihr sollt weniger essen und euch mehr bewegen. Wir müssen in aller erster Linie versuchen, die Kinder wieder an ein normales, natürliches Bewegungsverhalten heranzuführen. Dazu ist nötig, dass Eltern (wieder) Vorbilder werden. Offensichtlich hat unsere Elterngeneration - die derzeit 30 bis 50-Jährigen - es völlig verlernt, sich zu bewegen. Aber wer sich keine Zeit für Bewegung nimmt, der wird sich irgendwann Zeit für seine Krankheiten nehmen müssen. Weg von der bewegungsfeindlichen Infrastruktur, hin zu den Bewegungsräumen, die wir früher hatten - das ist nötig. Wir brauchen dringend mehr Spiel- und Bolzplätze. Wir müssen Gesundheit zum Thema machen, auch in Kindergärten und Schulen. So kommen wir zudem besser an Kinder aus sozial schwachen Schichten heran. Ich fordere die tägliche Sportstunde in der Schule.
Bis 2020 will Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das Ernährungs- und Bewegungsverhalten der Deutschen verbessern, die Zunahme von Übergewicht bei Kindern stoppen und die Verbreitung von Übergewicht verringern. Halten Sie das für ein realistisches Ziel?
Froböse: Ich denke, wir brauchen 20 bis 25 Jahre. Prävention hat immer den Nachteil, das sich die Erfolge nicht sofort messbar einstellen. Wir werden die derzeitige Entwicklung nicht direkt umkehren können, sondern es nur mit der nächsten Generation schaffen.
Nun gibt es in Deutschland bereits mehr als 400 Präventions- und Therapieprogramme u.a. für dicke Kinder. Warum greifen die nicht?
Froböse: Es gibt kein einziges Projekt, dem es wirklich gelungen ist, wissenschaftlich nachhaltig zu dokumentieren, dass es einen Effekt hat. Kurzfristig ist es so, dass man Kinder dazu bringt, mal ein paar Kilo abzunehmen. Das ist natürlich ein Erfolg. Aber wenn man sich die Kinder 10 Jahre später wieder anguckt, ist alles beim Alten. Solange es keine nachhaltige Lebensstilveränderung gibt, passiert nichts. Es ist wichtig, pädagogische Konzepte, Lebensstilkonzepte zu entwickeln und zu etablieren. Nur dann werden wir eine langfristige Wirkung erzielen.
Das ist das Problem. Experten, Sie eingeschlossen, haben schon lange gewarnt. Warum stecken wir heute dennoch in dieser Misere?
Froböse: Weil wir keinen wirtschaftlich Druck hatten und ökonomisch in diesem Schlaraffenland wunderbar gelebt haben. So lange das Gesundheitswesen nicht kollabiert wäre - derzeit steht es ja quasi kurz vor dem Kollaps - hätten wir auch keine Reaktion vollzogen. Nur über den Druck der Ökonomie werden wir letztendlich zu vernünftigem Handeln gezwungen. Wir haben uns in den letzten 20 Jahren in Saus und Braus unvernünftig verhalten. Die Quittung haben wir jetzt.
Wie steht es um die Mitschuld der Lebensmittelindustrie, die hier ja jede Verantwortung zurückweist?
Froböse: Die Nahrungsmittelindustrie hat eine riesige Schuld. Sie erklärt uns viel zu oft, das wir mit ihren Produkten auf der sicheren Seite sind. So ist beinahe jedem Nahrungsmittel irgendein Vitamin beigemischt. Damit wird uns weis gemacht, dass wir gesund essen. Das tun wir aber so nicht. Sie lockt uns immer wieder auf die falsche Fährte, indem sie suggeriert, dass zu fette und zu süße Produkte auch noch gesund sind.
Die Fragen stellte Anka Richter.