Depressionen Depressionen: Wie eine unsichtbare Schlange
Halle (Saale) - Er hat sich lange gequält. Heute weiß Peter Schmidt (Name geändert), dass er wahrscheinlich schon als Kind unter Depressionen gelitten hat. Und er weiß auch, dass die Zurückweisungen und Demütigungen durch den Vater eine der Ursachen dafür waren. Damals sei er bloß belächelt worden. „Ich galt als Außenseiter“, sagt er.
„Als Junge“, so erzählt der Mann, der jetzt Anfang 50 ist, „hätte ich gern ein Beet im Garten der Eltern bewirtschaftet.“ Es habe ihn gereizt, es nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und das eine oder andere auszuprobieren. Der Vater hat es ihm verweigert. Gleichzeitig beklagte er sich bei der Verwandtschaft darüber, dass sein Sohn daran überhaupt kein Interesse zeige. So war es auch, als dieser Laubsägearbeiten in Angriff nehmen wollte und den Vater um Anleitung bat. Er hat sie dem Sohn verwehrt und sich gleichzeitig vor anderen über seine mangelnde handwerkliche Begabung lustig gemacht. Auch zur Skatrunde wurde Peter Schmidt nicht zugelassen - im Unterschied zu einer Cousine.
Die Schuld bei sich selbst gesucht
Als Kind hat Peter Schmidt die Schuld für dieses Verhalten stets bei sich selbst gesucht. „Ich habe mir ständig die Frage gestellt, was ich denn wohl an mir habe, dass der Vater mich ablehnt“, sagt er. Der Junge zog sich in sein Schneckenhaus zurück. Er wurde depressiv, was damals aber nicht so genannt wurde. „Ich habe innerlich gemerkt, dass da etwas anders ist, ich wollte am liebsten zurück in die alte Haut“, erzählt er. Das sei schon krass gewesen. Professionelle Hilfe bekam er damals nicht. Lediglich die Mutter versuchte, auf das Kind einzugehen. „Sie hat mich übermäßig behütet“, sagt Peter Schmidt. Was aber nur zusätzlichen Spott des Vaters hervorrief.
Wie sehr diese Kindheit ihn geprägt hat, merkte Peter Schmidt erst nach der Wende bei einer langen Psychotherapie. Zu der hatte ihm ein Bekannter geraten. „Zu erfahren, dass ein Junge, der unter solchen gestörten Verhältnissen aufwächst, fast zwangsläufig depressiv und zum Außenseiter wird, das war eine unglaubliche Befreiung für mich“, sagt er.
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Peter Schmidt wurde durch die Therapie selbstbewusster und unternehmungslustiger. „Man lernt dabei zu erkennen, was einem wirklich wichtig ist“, sagt er. Das unterscheide sich meist von dem, was andere einem einreden. Ihm war es besonders wichtig, eine Arbeit zu finden, bei der er richtig gefordert wird. Das gelang ihm auch. Zweimal sogar. Doch, so erzählt er, beide Stellen habe er durch massives Mobbing wieder verloren. „Und das war jedes Mal Auslöser einer ganz tiefen Depression.“ Diesmal jedoch suchte Peter Schmidt Hilfe. Und dabei stieß er in Halle auf den Verein Stadtinsel e.V., der seit 1992 für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder in Lebenskrisen da ist. Hier fand der Mann, der seit einigen Jahren in psychiatrischer Dauerbehandlung und schwerbehindert ist, so etwas wie ein zweites Zuhause. Nicht nur, weil er sich inzwischen in einem schmerzhaften Prozess von seinem Vater losgesagt hat. Der konnte oder wollte ihm auf mehrfach drängendes Nachfragen keine Erklärung zu seinem Verhalten geben. Auf der „Stadtinsel“ spricht er zum einen regelmäßig mit einer Mitarbeiterin über das, was ihn belastet und erhält von ihr Ratschläge. Zum anderen besucht er regelmäßig eine der 16 Selbsthilfegruppen, die unter dem Dach des Vereins zusammenkommen.
Kontakt zu anderen Menschen
„Für mich ist die Stadtinsel sehr wichtig, weil ich unter Gleichgesinnten bin“, sagt Peter Schmidt. Sicher, so fügt er hinzu, er könnte auch zu anderen Menschen Kontakte knüpfen. „Aber wenn die mitkriegen, dass ich eine psychische Erkrankung habe, dann ziehen die sich oft zurück“, meint er. „Da ist es doch besser, sich mit Menschen zu treffen, die keine großen Augen machen, wenn ich sage, dass ich in psychotherapeutischer Behandlung bin.“ Peter Schmidt will neuen Enttäuschungen vorbeugen. Die Wahrscheinlichkeit, abgelehnt zu werden, sei schon sehr hoch, meint er. Einen Nachteil habe die Selbsthilfegruppe aber doch. „Wer hierherkommt, der hat viel mit sich selbst zu tun. Freundschaften entstehen da weniger“, sagt er.
In der Selbsthilfegruppe wird nicht pausenlos über psychische Erkrankungen gesprochen. Auch die aktuelle Tagespolitik oder das letzte Fußballspiel werden diskutiert. „Wichtig ist schlicht und einfach die Zusammenkunft“, sagt Peter Schmidt. Die anderthalb Stunden in der Woche würden genossen. Aber wenn jemand Probleme hat, dann reden wir darüber. Zum Beispiel darüber, mit welchen Strategien eine Depression überstanden werden kann.
„In der Depression lebt man nur von einem Tag zum anderen“, sagt Peter Schmidt. „Man will nicht nach draußen gehen, hat zu nichts Lust, ist froh, wenn der Tag rum ist.“ Schon die Körperhaltung drücke aus: Ich will niemanden sehen und schon gar nicht angesprochen werden. In der depressiven Phase sei man verzweifelt. „Das geht bis hin zu Selbstmordgedanken“, beschreibt er. „Sie haben keine Kraft mehr. Und wenn sie das schon öfter erlebt haben, kommt das Gefühl hinzu, die Krankheit doch nicht überwinden zu können. Sie haben die Schnauze voll und würden sich am liebsten umbringen.“
Angsterkrankung im Schlepptau
„Eine Depression hat oft auch eine Angsterkrankung im Schlepptau“, sagt Diplompädagogin Andrea Mund, die zusammen mit ihrer Kollegin Estrid Thiel in der „Stadtinsel“ die Einzelgespräche führt und auch die Selbsthilfegruppen betreut. „Die Betroffenen igeln sich ein und entwickeln förmlich Angst, auf die Straße zu gehen.“ Ihr Kollege Torsten Klimpel ergänzt, dass die Kranken wie in einem Kokon gefangen seien. „Sie haben keinen Antrieb mehr, lassen sich oft auch gehen.“
Peter Schmidt bestätigt das. Auch er habe Angst gehabt, auf die Straße zu gehen. „Aber nur aus einem Grund: Ich habe mich geschämt, dass die Menschen mich so sehen. Und hinterher habe ich mich geschämt, dass sie mich so gesehen haben“, erzählt er. Der Mensch in der Depression unterscheide sich grundlegend von dem, der er sonst sei.
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Peter Schmidt spricht von einem schleichenden Gift. Er vergleicht die Depression mit einer Schlange im Gras, die nicht gleich zu sehen ist. „Wenn sie erblickt wird, ist es schon zu spät.“ Dann sei die Krankheit da. Und es sei auch nicht abschätzbar, wie lange sie bleibt. Das habe der Betroffene nicht in der Hand. Und es helfe ihm auch nicht, wenn seine Umgebung ihn auffordere: Nun reiß’ Dich mal zusammen, lass Dich nicht so gehen.
Psychische Erkrankungen nehmen zu
Dass psychische Erkrankungen zunehmen, spüren die Mitarbeiter der „Stadtinsel“ am Zulauf auf die Kontaktstelle. „Der wird immer größer“, sagt Andrea Mund. So hätten im ganzen Jahr 2014 knapp 2.000 Menschen bei ihnen eine Beratung gesucht. In diesem Jahr sind es zum jetzigen Zeitpunkt bereits weit über 500. Peter Schmidt vermutet, dass dies auch damit zusammenhängt, dass inzwischen in den Medien viel über psychische Erkrankungen berichtet wird und dass es viele Filme darüber gibt. „Die Außenwelt kann unsere Probleme so besser verstehen - auch wenn wir trotzdem Außenseiter bleiben“, betont er. Depressionen seien heute nicht nur medizinisch, sondern auch gesellschaftlich als Krankheit anerkannt. Gerade für Männer habe es früher oft nur eine Lösung gegeben: „Das Problem wurde unter den Tisch getrunken. Zum Glück hat sich das geändert.“
Die Selbsthilfegruppe von Peter Schmidt trifft sich im Kern übrigens schon seit Jahren. Auch wenn die Zusammensetzung immer mal wieder etwas ändert. Dass in ihr nur Männer sind, hat sich aber zufällig so ergeben. Die Gruppen stehen - bis auf eine spezielle nur für Männer - sowohl Männern als auch Frauen offen. Wie auch immer. „Regelmäßig zur ,Stadtinsel’ zu kommen, das gibt Halt“, sagt Andrea Mund. Halt, den die Betroffenen dringend brauchen.
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