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Anosmie Anosmie: Kann dich nicht riechen! Was tun, wenn der Geruchssinn fehlt?

Von Lauren Ramoser 13.09.2016, 20:32
Unsere Autorin Lauren Ramoser, 24, studiert Journalistik in Leipzig.
Unsere Autorin Lauren Ramoser, 24, studiert Journalistik in Leipzig. Nicolas Ottersbach

Leipzig - Ich fahre fast jeden Morgen mit der Straßenbahn zur Uni. Heute sind noch drei Plätze in einem Viersitzer ganz vorne frei. Ich setze mich hin, mir gegenüber sitzt ein Mann mittleren Alters. Ich hole mein Buch raus und vertiefe mich in die Geschichte.

Vier Stationen später steigt der Mann aus, drei Frauen setzen sich, die zuvor gestanden haben. Eine beschwert sich lautstark: „Puh! Was hat der gestunken. Das nimmt dir ja die Luft zum Atmen...“ Sie schaut mich an: „Wie haben Sie das denn ausgehalten?!“

Anosmie ist angeboren

Und da ist es wieder. Ich nenne es gerne meine angeborene Unvoreingenommenheit. Die Medizin nennt es Anosmie. Von Geburt an kann ich nicht riechen. Der Riechkolben ist einfach nicht mitgewachsen - jener Teil des Gehirns, in dem Gerüche wahrgenommen und zum Teil verarbeitet werden.

Das ist eine zufällige Mutation. Keiner meiner direkten Vorfahren hat mir das vererbt. Eine Laune der Natur. Meine Mutter erzählt mir oft von den ersten Momenten nach meiner Geburt. Wie sie meine Finger und Zehen gezählt und freudestrahlend zu meinem Vater gesagt hat: „Wir haben ein kerngesundes Kind!“

Anosmie anerkannte Behinderung

Anosmie - das bedeutet, dass ein ganzer Sinn fehlt. Professor Thomas Hummel von der Uniklinik Dresden beschäftigt sich seit Jahren mit dieser Form der Behinderung. Menschen aus ganz Deutschland kommen mit ihrem fehlenden Geruchssinn zu ihm.

„Rund fünf Prozent der Bevölkerung kann nicht riechen, oftmals hat das aber etwas mit dem Alter zu tun. Nur ungefähr jeder 7.000. Deutsche kann von Geburt an nicht riechen,“ erklärt der Mediziner. „Besonders schwer ist es aber für die Betroffenen, die ihren Geruchssinn durch eine schwere Krankheit oder einen Unfall verloren haben. Das ist ein besonders herber Verlust.“

GdB legt Behinderungsgrad fest

Wie stark eine Behinderung ist, wird in der sogenannten GdB-Tabelle festgelegt, das Kürzel steht für „Grad der Behinderung“. Anosmie ist pauschal mit 15 Prozent Behinderungsgrad festgesetzt. Vorteile habe ich dadurch keine, dazu müssten es mindestens 20 Prozent sein.

Geschmacksinn durch Anosmie stark eingeschränkt

Durch meinen fehlenden Geruchssinn ist mein Geschmack stark eingeschränkt. Es gibt nichts, das mir nicht schmeckt. Es müsste schon stark versalzen sein. Meine Mutter hat immer gesagt, ich sei einfach ein unkomplizierter Esser. Noch heute vergeht kein Monat, indem ich mir nicht den Magen verderbe.

Ich erkenne erst, dass eine Milch sauer ist, wenn sie in Bröckchen aus dem Tetra-Pak fällt. Käse, Wurst, Fleisch, alles, was verdirbt ohne sichtbare Spuren zu entwickeln, warnt mich leider nicht. Und mehr als Lebensmittel rasch aufzubrauchen, kann ich nicht tun.

Frankreich und Niederlande bei Forschung zu Anosmie weiter

In Frankreich und den Niederlanden sind die Forschungen um Anosmie und ihre Auswirkungen deutlich weiter als bei uns. Dort ist mittlerweile der Prototyp eines Geräts auf dem Markt, das Gerüche erkennt. Zumindest solche, die eine Gefahr darstellen. Vielleicht kann mir das in Zukunft mehr Selbstständigkeit verschaffen. Aber bis dahin bleibt es eine Lotterie.

Erst mit 16 Jahren ist mir meine Behinderung aufgefallen. Davon sind viele Menschen immer wieder schockiert. Wie konnte ich das nicht merken? Warum ist das niemandem früher aufgefallen? Die Antwort ist einfach: Weil mir nie etwas gefehlt hat. Ich kenne es nicht anders. Angeborene Anosmie wird meistens in den Teenager-Jahren entdeckt, erklärt Professor Hummel in einer seiner Studien. Von diesem ersten Erkennen bis zur Diagnose durch einen Facharzt vergehen dann bei vielen Betroffenen nochmal einige Jahre.

Wir, meine Familie und ich, hatten damals schon länger den Verdacht, dass ich nicht besonders gut riechen kann. Im Chemie-Unterricht ging einmal ein Reagenzglas mit einer ätzenden Flüssigkeit herum. Und außer einem leichten Kitzeln habe ich nichts davon wahrgenommen.

Geruchstest mit Sniffing Sticks

Daraufhin ging meine Mutter mit mir zum Arzt, eine bis heute beschämende, wenn auch lustige Geschichte: Die Arzthelferin führte mich in ein Behandlungszimmer, meine Mutter stand einige Meter hinter mir an der Wand. Um den Geruchssinn zu testen, gibt es verschiedene sogenannte Sniffing Sticks. Das sind Textmarker-große Stifte, die Gerüche abgeben, nach Fisch, Kaffee, Zwiebeln oder Leder.

Die Helferin hielt mir einen nach dem anderen unter die Nase und notierte meine Reaktionen. Ich sagte ihr, dass ich das Gefühl habe, die Luft sei bei diesem etwas kälter, beim nächsten wärmer. Ich glaube, sie kam sich nicht ernst genommen vor. Langsam verlor sie die Geduld und wurde ungehalten.

Nur wenige haben Erfahrung mit Anosmie

Den fünften oder sechsten Stift hielt sie mir länger direkt unter die Nase und sagte mit angespanntem Gesicht: „Du musst schon ordentlich Luft holen!“ Ich holte hörbar Luft, sog den vermeintlichen Geruch tief ein und verzog keine Miene. Natürlich nicht. Ich nahm nichts wahr. Keine Veränderung, kein Kitzeln, nichts. Nach rund 30 Sekunden gab meine Mutter hinter mir auf, hielt sich die Hand vor Mund und Nase und stöhnte auf. Der faulige Fisch-Geruch hatte sie erreicht.

Nicht ernst genommen zu werden, ist ein schlechtes Gefühl. Diese Behinderung ist im gesellschaftlichen Umgang für mich ein zweischneidiges Schwert. Zum einen bin ich froh, dass mir der Sinn fehlt, der am unscheinbarsten ist. Niemand sieht mir meine Behinderung an. Andererseits fehlt das Verständnis im Umgang mit Anosmikern. Wenn ich davon erzähle, schlägt mir erstaunlicherweise nur sehr selten Mitleid entgegen. Auch sachliches Verständnis ist selten. Die meisten haben sich mit dieser Behinderung noch nicht beschäftigt.

Für Anosmie, das Fehlen des Geruchssinnes, kann es eine ganze Reihe von Ursachen geben. Anosmie kann, wie bei unserer Autorin, angeboren sein - in solchen Fällen fehlt der Riechkolben häufig komplett oder ist unterentwickelt.

Gemeint ist jener Teil des Gehirns, in dem Gerüche wahrgenommen und teils bereits verarbeitet werden. Im Riechkolben enden die aus der Nase kommenden Riechnerven (siehe Grafik).

Weitere Auslöser für eine Anosmie können verschiedene Erkrankungen sein - angefangen von einem Schädel-Hirn-Trauma infolge einer schweren Verletzung bis hin zu Virus-Infektionen. Schädel-Hirn-Traumata etwa können zum Abreißen von Riechnerven führen oder zu Blutungen in solchen Abschnitten des Gehirns, die der Wahrnehmung und Verarbeitung von Gerüchen dienen.

Auch Viren können die Riechnerven beeinträchtigen oder gar zerstören; häufig bessert sich das Geruchsvermögen in solchen Fällen, etwa bei Infekten der Atemwege, aber wieder.

Als weitere mögliche Ursachen einer Anosmie nennen Mediziner Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson oder Multiple Sklerose.  (asc)

Hätte ich für den Satz „Da kannst du aber manchmal froh sein!“ jedes Mal einen Euro bekommen, ich hätte einen arabischen Gewürzmarkt leer kaufen können. Dabei ist dieser Satz so dumm. Soll ich mich dadurch besser fühlen, weniger anders, weniger benachteiligt?

Wahrscheinlich sagen ihn die Menschen aus Verlegenheit. Aber wie fühlt sich ein Blinder, wenn ich ihm sage, er solle froh sein nicht sehen zu können? Weil er dann eine eiternde Wunde nicht sehen muss? Einen Gehörlosen beglückwünschen, weil er einmal das Kratzen auf einer Tafel nicht hören muss? Wiegt es das auf? Nein.

Übertriebene Körperhygiene bei Menschen mit Anosmie

Meine größte Angst ist unangenehmer Körpergeruch. Kleidung wasche ich regelrecht kaputt, aus Angst, sie könne stinken, wenn ich sie einmal getragen habe. Schlimmer ist allerdings das Nichtwissen um Körpergeruch. Viele Anosmiker waschen sich so intensiv, dass sie sich ihre Haut wund scheuern. Ich putze bis zu sechs Mal am Tag meine Zähne und kaue fast durchgehend Kaugummi, aus Angst vor Mundgeruch. Auslöser ist das unangenehme Gefühl, meine Freunde würden es mir nicht sagen, sollte es der Fall sein.

Sobald ich neue Leute kennenlernen, mit denen ich absehbar viel Zeit verbringen werde, sage ich ihnen, sie sollen mich darauf aufmerksam machen, wenn ich stinke. Ich denke, dass es vielen Menschen unangenehm ist, andere auf ihren schlechten Körpergeruch aufmerksam zu machen. Dabei bin ich darauf angewiesen. Ich bin abhängig davon, dass andere meine Nase sind. Abhängigkeit ist ein unangenehmes Gefühl. Eine Last zu sein, negativ aufzufallen, zu blockieren. Aber anders geht es nicht.

Der Geruchssinn ist wie kein anderer bereits in unserem Genpool verankert. Wir lernen über Gerüche, wir erinnern uns über sie und wir nutzen sie, um Bindungen aufzubauen. In meinem Leben ist er auch durch meinen Namen verankert. Ironie des Schicksals könnte man es nennen. „Lauren“, so hieß das Lieblingsparfum meiner Mutter. Ich werde nie erfahren, welcher Geruch sie zu meinem Namen inspiriert hat. Ich werde auch nie wissen, wie meine Mutter riecht. Oft hat sie mir gesagt, sie würde mich an meinem Geruch aus Tausenden von Kindern erkennen. Ich werde meine eigenen Kinder später nie an ihrem Geruch erkennen können.

"Was wäre mein liebster Geruch?"

Ich stelle mir manchmal vor, was mein liebster Geruch wäre. Meistens denke ich, es wäre frisch gemähtes Gras, der Geruch von Wäldern oder frisches Brot. Aber das sind nur Vermutungen. Und das werden sie auch immer bleiben. Laut einer Studie vermissen die meisten Anosmiker die Gerüche von Essen, Düften und der Familie. Aber das ist eben nicht mehr als ein romantisiertes Ratespiel, gebunden an prominent gemachte Gerüche aus Filmen, Literatur und dem persönlichen Umfeld.

Aus Angst negativ aufzufallen oder aus Scham verheimlichen rund 26 Prozent der Betroffenen ihre Behinderung. Aber ich strebe einen offenen Umgang damit an. Ich finde es leichter, wenn mein Umfeld schnell lernt damit umzugehen und meine Nase zu sein. Und es ist mir wichtig, das Verständnis für diese erstaunlich unbekannte, geruchlose Behinderung zu verbessern. Denn Heimlichtuerei stinkt doch zum Himmel! Vermute ich zumindest.   (mz)