Teil 31: Weg aus dem Alkoholismus Alkoholismus: Weiter Alkohol nach Plan trinken statt Abstinenz
Halle (Saale) - Früher, da hat Beate S. hin und wieder abends ein Glas Rotwein genossen. Doch mit der Zeit hat ihr das nicht mehr gereicht. Erst wurden es zwei, dann drei Gläser. Später hörte sie nicht auf zu trinken, bevor die Flasche geleert war.
Als ihr das bewusst wurde, da erschrak die 43-Jährige. Sollte ihr ein ähnlicher Weg vorbestimmt sein wie ihrem Vater, der an den Folgen seiner Alkoholabhängigkeit starb? Nein. Da wollte sie lieber die Notbremse ziehen.
Beate S. versuchte, im wahrsten Sinne des Wortes, von der Flasche wegzukommen. Ab und zu ein Glas, das sollte es wieder werden. Doch – der Geist war willig, das Fleisch aber schwach. Allein schaffte sie es nicht.
Dann las die Frau von einem neuen Angebot der AWO-Suchtberatungsstelle in Halle, bei dem es um das kontrollierte Trinken ging. Und sie war dabei.
„Kontrolliertes Trinken ist ein Programm, das Menschen hilft, die ihren Alkoholkonsum reduzieren wollen“, sagt Susann Brendler. Und die Suchtberaterin begleitet sie dabei. Am Anfang wird erst einmal gründlich analysiert, wie die Ausgangssituation ist, wann, wie, was und wie viel getrunken wird, welche Versuche der Betroffene schon allein unternommen hat, weniger zu trinken, was letztendlich sein Ziel ist.
Weg vom Alkohol: Ein Trinktagebuch führen
Danach heißt es, ein Trinktagebuch zu führen. „Aus dem können wir dann beispielsweise ablesen, in welchen Situationen der Klient oder die Klientin dem Alkohol besonders zuspricht“, sagt Brendler.
Bei Beate S. waren das beispielsweise immer die Tage, an denen Oma Gertrud zu Besuch kam und ihren Selbstgemachten mitbrachte. Den kredenzte sie voller Stolz ihrer Enkelin und war beleidigt, wenn diese ablehnte. Also prosteten sich die beiden zu.
Aber nach dem ersten Glas aus Omas Flasche schwanden die guten Vorsätze. Und Beate S. trank an solch einem Abend auch wieder viel mehr Wein, als sie eigentlich wollte.
In den Sitzungen mit der Suchtberaterin - insgesamt zehn an der Zahl - hat Beate S. unter anderem Strategien entwickelt, der Oma einen Korb zu geben, ohne sie vor den Kopf zu stoßen. „Angemessen Alkohol abzulehnen, ohne jemanden zu kränken, ohne moralisierend zu wirken, aber auch ohne sich zu rechtfertigen - das ist bei allen ein wichtiges Thema“, sagt Brendler.
In anderen Sitzungen gehe es um die Bewältigung stressiger Situationen, in denen zur Entlastung getrunken werde. Auch der Umgang mit Ausrutschern komme zur Sprache.
Zu Beginn jeder Sitzung wird das Trinktagebuch ausgewertet. Am Ende wird ein Plan erstellt, in dem für jede Woche bis zur nächsten Sitzung festgelegt wird, an wie vielen Tagen es Trinkpausen gibt, und welche Menge höchstens pro Tag und pro Woche getrunken wird.
„Ich bin von diesem Programm sehr überzeugt“, sagt Brendler, die dafür eine spezielle Zusatzausbildung absolviert hat. Doch nicht selten hört sie die Frage: Ist es für Menschen, die ein Problem mit Bier, Wein oder Schnaps haben, nicht besser, abstinent zu werden?
„Grundsätzlich“, so antwortet sie dann, „ist es für jeden der beste Weg, gar nicht zu trinken.“ Der Mensch brauche keinen Alkohol, um sich am Leben zu erhalten. „Wenn ich aber mit dieser Haltung Beratung anbiete, dann schließe ich von vornherein die Leute aus, die zwar erkannt haben, dass sie zu viel trinken, sich aber nicht vorstellen können, ganz auf ihr Bier oder ihren Wein zu verzichten“, fügt sie hinzu.
Für diejenigen, die den besten Weg gerade nicht gehen wollen, müsse es einen zweitbesten geben. „Und der zweitbeste Weg ist das kontrollierte Trinken.“
Alkohol: Suchtberatung für Trinker in Halle
Aus diesem Grund hat sich die AWO-Suchtberatungsstelle in Halle 2007 entschlossen, dieses Programm anzubieten. Was nicht ohne vorherige Diskussionen abging. Denn der Abstinenzgedanke als einziger Weg der Veränderung war hierzulande doch stark verbreitet, sagt die Suchtberaterin. Vor allem von einer Selbsthilfegruppe, in der sich Angehörige Alkoholkranker treffen, habe sie Gegenwind bekommen.
Die hatten die Befürchtung, dass ihre Partner, die den mühevollen Weg zur Abstinenz geschafft hatten, nun wieder zum Trinken verleitet werden.
„Ich konnte das gut nachvollziehen“, sagt Brendler. Auch abstinent lebenden Alkoholikern käme mitunter der Gedanke: Irgendwann kann ich wieder trinken. Und zwar kontrolliert. So komme es zu den meisten Rückfällen.
Aber um diese „Fälle“ geht es in dem Programm nicht. „Unser Ziel ist es, Menschen zu erreichen, die Alkohol zwar in schädlichen Mengen trinken, die aber noch keine bleibenden Schäden davon getragen haben, die noch nicht abhängig sind“, erklärt Brendler.
Kurzum, es soll etwas verändert werden, bevor das berühmte Kind in den Brunnen fällt, sprich: bevor sich eine chronische Alkoholkrankheit entwickelt.
„Wer bereits abstinent ist“, so betont die Suchtberaterin, „der wird in das Programm zum kontrollierten Trinken gar nicht erst aufgenommen.“ Und sie nennt noch einen zweiten Ausschlussgrund. „Wer so stark abhängig ist, dass er schon bei einer geringen Reduktion der Trinkmenge Entzugserscheinungen zeigt, der braucht etwas anderes als dieses Programm.“
Freilich gerät die Suchtberaterin mitunter in Gewissenskonflikte. In Ausnahmefällen, so erzählt sie, nehme sie auch Abhängige in das Programm auf. Abhängige, die schon viel versucht hätten, um von der Sucht loszukommen.
Das erscheint inkonsequent. „Aber“, so fragt sie, „ist es denn ethisch vertretbar, einen Menschen abzuweisen, für den die Abstinenz zwar das Richtige wäre, der sie aber momentan nicht erreichen kann?“ Wenn sie dem sage, er solle besser aufhören zu trinken, dann werde der nicht antworten: Na gut, ab heute trinke ich nicht mehr.
Viel eher wird er (sich) denken: Dann trinke ich eben weiter wie bisher - und komme nicht mehr zur Beratung. Da sei es doch besser, derjenige reduziere wenigstens die Trinkmenge, bleibe im Kontakt und erlebe reflektiert, dass er einen anderen Weg gehen müsse, sagt Brendler.
Beate S. hat durch das Programm ihr Ziel erreicht. Pro Woche trinkt sie jetzt nicht mehr als zwei Gläser Wein. Große Flaschen kauft sie gar nicht erst ein - um nicht in Versuchung zu geraten. Sie bevorzugt die kleinen 0,25-Liter-Flaschen.
Und sie hat den Tee für sich entdeckt, hat immer verschiedene Sorten vorrätig. Sie kocht ihn morgens vor - einen Teil nimmt sie mit zur Arbeit. Den Rest genießt die Frau am Nachmittag zu Hause.
Beate S. ist kein Einzelfall. Das Programm, das der Psychologe Joachim Körkel in den 1990er Jahren entwickelt hat, wird wissenschaftlich intensiv begleitet - auch weil es eben nicht unumstritten ist. Doch die Ergebnisse geben den Befürwortern recht: „Es ist bei Reduktionswunsch nachweislich wirksam und deshalb auch von den Krankenkassen als Präventionsmaßnahme anerkannt“, sagt Brendler.
65 Prozent der Teilnehmer hätten nach einem Jahr noch einen deutlich reduzierten Konsum. Im Durchschnitt werde die Trinkmenge halbiert. „Und zehn Prozent der Teilnehmer entscheiden sich während oder nach dem Programm für Abstinenz.“ (mz)