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Fürsorge Fürsorge: Kann ich mein Baby zu sehr verwöhnen?

Von Eva Dorothée Schmid 02.04.2015, 12:26
Kuscheln hat nichts mit verwöhnen zutun - davon kann es nie genug geben.
Kuscheln hat nichts mit verwöhnen zutun - davon kann es nie genug geben. imago/Westend61 Lizenz

Immer wenn Eltern ihren Babys viel Nähe geben, sei es durch Stillen nach Bedarf, durch Herumtragen oder Schlafen im Familienbett, ist oft jemand zur Stelle, der davor warnt, dass das Kleine dadurch „verwöhnt” werde und den Eltern so schnell auf der Nase herumtanze. Und wer auf Weinen des Kindes stets schnell reagiert, der hört schon mal den Spruch „Lass es ruhig mal schreien, das kräftigt die Lungen. Vor allem von Großeltern aber auch von unseren Eltern kommen solche Sprüche häufig. Und das kommt nicht von ungefähr.

Ansichten stammen noch aus der Nazi-Zeit

Eva Dorothée Schmid bloggt seit der Geburt ihres Sohnes als Mamaclever über alles, was werdende und frischgebackene Eltern wissen wollen. Als Journalistin legt sie dabei Wert auf gut recherchierte Texte, die Eltern wirklich weiterhelfen.

Die Wurzeln solcher Ansichten reichen bis ins Dritte Reich zurück. Unter den Nationalsozialisten bestand die oberste Priorität darin, dem Führer gesunde, starke Söhne zu schenken. Damals herrschte das Erziehungsideal vor, das Kind früh abzuhärten und zu Gehorsam zu erziehen. Gefühle galten als Verzärtelung. Deutsche Kinder sollten nicht weinen, keine Angst zeigen, dafür aber Mut, Stärke und Unerschrockenheit – bis zur Selbstaufgabe für das deutsche Volk. Um diese Ziele zu erreichen, musste die Erziehung sofort nach der Geburt beginnen.

Das spiegelt sich auch im damaligen Standardwerk über Kinderziehung wider: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind” von Johanna Haarer. Das Buch wurde in nur leicht abgeänderter Fassung bis 1987 verkauft – insgesamt 1,2 Millionen Mal. Damit hat es jahrzehntelang Einfluss auf Eltern und Kinderärzte ausgeübt.

Kinder als zu bändigende Tyrannen

In diesem Erziehungsratgeber wurde davon ausgegangen, dass das Kind ein Tyrann ist, den es zu bändigen gelte – und zwar schon als Säugling. Das bedeutete: Schreien lassen, es nicht auf den Arm nehmen, überhaupt nicht zu viel Aufmerksamkeit und Nähe aufkommen lassen. Johanne Haarer riet ernsthaft, das Kind in den ersten 24 Stunden nach der Geburt möglichst allein in einen Raum zu legen. Wenn Kinder weinten, sollten sie in einen stillen Raum geschoben und erst zur nächsten planmäßigen Mahlzeit wieder geholt werden. Auch nachts sollte man das Kind schreien lassen, damit es durchschläft.

Vielen kommen diese Ratschläge heute sicher ziemlich grausam und total abwegig vor, aber genau das wurde Müttern jahrzehntelang gepredigt. Man ging einfach davon aus, dass Kinder bei der Geburt nur mit schlechten Eigenschaften ausgestattet seien und nur durch strenge und konsequente Erziehung zu gesellschaftsfähigen Menschen geformt werden könnten. Doch über die kindliche Entwicklung wurde in den letzten Jahrzehnten viel geforscht und dabei kamen ganz andere Erkenntnisse über die Bedürfnisse von Babys zutage.

Säuglinge können noch nicht manipulieren

Man weiß heute, dass sich das Bewusstsein, mit eigenen Handlungen etwas bewegen zu können, erst im Laufe des ersten Lebensjahres entwickelt. Um ihre Eltern gezielt zu manipulieren, müssten Babys über Empathie verfügen, also wissen, was ihr Handeln konkret in uns auslöst. Diese Fähigkeit entwickelt sich allerdings erst im Alter von etwa drei bis fünf Jahren. Babys schreien also nicht, um ihre Eltern zu tyrannisieren. „Das Schreien ist der einzige Notruf des Kindes! Kinder brauchen feinfühlige Antworten auf ihre Bedürfnisse. Das hat nichts mit Verwöhnen zu tun – das ist Erste Hilfe”, predigt Karl-Heinz Brisch, Leiter der Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am Kinderspital der Universität München und Präsident der Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der frühen Kindheit.

Lässt man Babys schreien, wird das Urvertrauen geschwächt

Schreien ist für ein Baby sehr anstrengend – es versucht deshalb zunächst, durch viele andere Signale darauf aufmerksam zu machen, dass es ein Bedürfnis hat. Wenn diese Signale von seinen Bezugspersonen nicht erkannt werden, dann muss das Baby der Forderung nach Erfüllung seines Bedürfnisses Nachdruck verleihen – und das kann es nur durch lautes Schreien. Über andere Möglichkeiten verfügt es noch nicht. „Wenn auf das Weinen eines Babys nicht reagiert wird, schwächt das sein Urvertrauen in die engsten Bindungspersonen”, erklärt Brisch.

Wenn man Babys häufiger schreien lässt, dann werden sie frustriert. „Sie lernen früh, auf ein Notfallprogramm im Gehirn umzuschalten, das analog dem Totstellreflex bei Tieren dem Überleben in absoluter Todesbedrohung dient”, sagt Brisch. Das Gehirn entwickelt sich nicht gut, und das Kind lernt nicht, mit Stress umzugehen.

Studien zeigen die Vorteile des „Verwöhnens”

Und auch Studien zeigen, dass sich Kinder, auf deren Bedürfnisse schnell eingegangen wird, besser entwickeln. Eine Studie der Brown University in Rhode Island zeigte, dass Kinder von Müttern, die schneller auf das Schreien von Babys reagieren, mit eineinhalb Jahren sprachlich und intellektuell besser entwickelt sind.

Eine Untersuchung von Silvia Bell und Mary Ainsworth belegt, dass Kinder, deren Mütter sofort auf ihr Schreien reagieren, tatsächlich zufriedener sind. In dieser Studie von 1972 wurde das Schreiverhalten von Babys im Alter von drei und nach sieben Monaten in Abhängigkeit der Reaktionen der Mutter auf das Schreien untersucht. Die Babys jener Mütter, die unverzüglich und feinfühlig auf ihr Schreien reagierten, weinten später deutlich weniger, als die Babys der Mütter, die nur zögerlich reagierten. Und eine Studie aus dem Jahr 1989 an gestillten Neugeborenen hat gezeigt, dass kräftiges Schreien um die Brust die Trink-Atem-Koordination eher verschlechtert und zu vorzeitiger Erschöpfung führt.

Kuscheln hat nichts mit verwöhnen zu tun

Menschenbabys sind zudem von Natur aus Traglinge. Alle ihre Instinkte sagen ihnen, dass sie nur überleben können, wenn sie ununterbrochen bei der Mutter sind, weil sie sonst gefressen werden, erfrieren oder verhungern – das war jedenfalls zu Urzeiten so und das prägt Babys noch heute. Ein Baby, das nicht protestiert wenn die Mutter es ablegt, hätte zu Urzeiten nicht lange überlebt. Zudem baut sich Bindung im ersten Lebensjahr über Körperkontakt auf – deshalb ist es ganz wichtig, dass Kind häufig auf den Arm zu nehmen, es zu streicheln, mit ihm zu kuscheln. Mit Verwöhnen hat das nichts zu tun – eher damit, ein ganz grundlegendes Bedürfnis zu erfüllen.

Also lasst Euch nicht verunsichern von Eltern und Großeltern. Man kann ein Baby nicht verwöhnen! Und wenn man auf seine Bedürfnisse nicht schnell reagiert, dann wird es sich nicht so gut entwickeln und eventuell sogar seelische Schäden davontragen.

Der Text erschien ursprünglich auf mamaclever.de

Wenn man Babys oft schreien lässt, lernen sie schlechter, mit Stress umzugehen.
Wenn man Babys oft schreien lässt, lernen sie schlechter, mit Stress umzugehen.
imago/biky stock&people