Fleischprodukt Fleischprodukt: Das Geheimnis der Lerchen
Halle/MZ. - Versailles, vor den Toren von Paris, scheint in diesen Tagen seinen Glanz ganz und gar verloren zu haben. Es ist Krieg. Die deutschen Armeen haben im einstigen Prunkschloss des Sonnenkönigs ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Die Belagerung der französischen Hauptstadt ist in vollem Gange. Keiner der Passanten und Soldaten auf dem Hauptweg mag an diesem Morgen ahnen, welch lange Reise der eilige Reiter, dem sie gerade erschrocken ausgewichen sind, schon hinter sich hat. Und noch weniger wissen sie, welche Ware der Bote bei sich trägt, auf seinem beschwerlichen Weg von Stolberg in ferne Frankreich.
Das dicke Vergrößerungsglas ruht auf den vergilbten Unterlagen. Die saubere Handschrift auf dem Papier wölbt sich unter dem Glas. Ein Datum kommt klobig zum Vorschein: 4. November 1870.
Wie oft Erich Kupfer die Geschichte in seinem Leben schon erzählt hat, fällt ihm nicht mehr ein. "An die hundert mal dürften es schon gewesen sein", mutmaßt er und unterstreicht seine Aussage mit einer Handbewegung. Schon seit über 130 Jahren wird die Geschichte seines Urgroßvaters, des Metzgermeisters Ernst Mansfeld, aus der Harzstadt Stolberg erzählt. Der treue Untertan, der Ende Oktober 1870 - mitten in den Wirren des Deutsch-Französischen Krieges - einen Boten entsandte, um per Feldpost Fresspakete an deutsche Feldherren zu schicken. Es wird berichtet, dass der findige Fleischer eigens dafür eine neue Delikatesse kreiert habe. Die Stolberger Lerche. "Es sind kleine Würstchen aus Schweine- und Rindfleisch", erklärt Senior Kupfer und hebt das Vergrößerungsglas vom Papier. Sofort verschwindet das Datum wieder im gleichförmigen Reigen der ordentlichen Handschrift.
"Das Besondere ist die Gewürzmischung." Sein Blick wird geheimnisvoll. "Ein Rezept, welches von Generation zu Generation weitergegeben wird."
Ernst Mansfeld versendet 1870 seinen delikaten Gruß an ranghohe Offiziere der deutschen Armee. Eigentlich ist er Stellmacher, wächst in Roßla, bei Sangerhausen auf. Als er sich in die Stolberger Gastwirtstochter Amalie Kupfer verliebt, hängt er seinen Beruf an den Nagel und geht beim Schwiegervater in die Metzgerlehre.
Den Lerchen, die er wohl aus reinem Patriotismus verschickt, legt er jeweils eine eigens für diesen Anlass hergestellte Glasflasche mit einem guten Schluck Nordhäuser Doppelkorn bei. Als Bündel verschnürt gehen so fünf Päckchen auf die lange Reisen gen Frankreich. Der frühe Winter lässt die Ware unverdorben im Feldlager nahe Paris eintreffen.
Schon am 27. Oktober 1870 hat Metz kapituliert. 173 000 Mann und 6 000 Offiziere haben sich in deutsche Gefangenschaft begeben. Es herrscht ausgelassene Stimmung im Hauptquartier. Täglich gehen von den Schlachtschauplätzen Nachrichten ein, die auf ein baldiges Ende des Krieges hoffen lassen. Der Bote aus dem fernen Stolberg wird vorgelassen und liefert, gemäß seinem Auftrag, die Lerchen und den Korn ab. Oberbefehlshaber Helmuth von Moltke, erst kürzlich in den Grafenstand erhoben, nimmt an jenem Tag ein Päckchen in Empfang. Jeweils eins bekommen auch General Feldmarschall Friedrich Karl, der Kronprinzen von Sachsen, der zukünftige Reichskanzler Otto von Bismarck und König Wilhelm 1. von Preußen, der wenig später deutscher Kaiser werden soll. Wohlwollend sollen sich die Herren zur Wurst aus Stolberg geäußert haben. Mehr noch. Die Speise aus der Heimat hat wohl solchen Eindruck hinterlassen, dass jeder Einzelne mit einem Päckchen Bedachte, in der folgenden Zeit zu Feder und Papier greift und sich bedankt. Und so hält der Fleischermeister Ernst Mansfeld im Januar 1871 fünf Dankesschreiben mit hochwohlgeborenen Unterschriften in seinen Händen. Man ist voll des Lobes für Mansfelds "Harzer Feldfrühstück". Man dankt ihm für seine "patriotische Gesinnung" und bestätigt ihm, dass dieses "ächt Deutsche Frühstück hier vor der besiegten Hauptstadt des Feindes trefflich gemundet hat".
Erich Kupfer hängt seinen Mantel an den Kleiderhaken, wie jeden Tag. Und dann nimmt er Kurs auf den Tisch gleich an der Theke, wie jeden Tag. Mittags geht der 86-jährige Stolberger ins Gasthaus Kupfer. Das ist Tradition. Schon 1989 hat das geschichtsträchtige Fachwerkhaus aus dem 15. Jahrhundert den Besitzer gewechselt. Doch trennen will sich Rentner Kupfer von dem Haus, in das sein Urgroßvater einst einheiratete, nicht ganz. Edgar Schulze, der Kupfers Gasthaus am Fuße des Stolberger Schlosses übernommen hat, zieht einen großen Umschlag aus der Tasche. Die vergilbten Briefe der fünf Feldherren werden gehütet wie ein Augapfel. Jahrelang haben sie in der Gaststube an der Wand gehangen. Kupfer streckt den Arm aus, um auf die Stelle zu weisen. "Irgendwann mussten wir die Briefe abhängen", erklärt er belustigt. "Einen Genossen im FDGB-Urlaub haben sie gestört. Seitdem liegen sie im Safe."
Ebenso wie die Briefe wird auch das Lerchenrezept bis heute behütet. "Ich habe es an einem sicheren Ort verwahrt", lächelt Erich Kupfer und tippt sich mit dem ausgestreckten Zeigefinger an die Stirn, um den Verbleib des Geheimnisses zu lokalisieren. Die Stolberger Lerchen werden heutzutage genau wie zu Lebzeiten Mansfelds per Hand hergestellt.
Schulze hat den Namen und das Rezept patentieren lassen. "Wer Stolberger Lerchen essen möchte, der muss nach Stolberg kommen", lächelt der Geschäftsmann. "Grünkohl oder Sauerkraut gibt es dazu. Und wer will, bekommt auch einen Doppelkorn, genau wie seinerzeit Bismarck, Moltke und Co."
Nach 190 Tagen ist der Krieg in Frankreich zu Ende. Am 18. Januar 1871 lässt sich Wilhelm 1. in Versailles zum Kaiser proklamieren. Doch auch nach neuen Ehren und in den turbulenten Tagen der Reichsgründung geraten die Lerchen aus Stolberg augenscheinlich nicht in Vergessenheit. Ab 1873 darf sich Fleischer Mansfeld aus Stolberg "Hoflieferant seiner Königlichen Hoheit" nennen.
Und manchmal, wenn Erich Kupfer zum Mittag kommt, bestellt er Lerchen mit Kartoffeln und Grünkohl.