Bundesweiter Vorlesetag Warum Eltern ganz viel vorlesen sollten
Größerer Sprachschatz, bessere schulische Leistungen und Empathie: Am 17. November ist bundesweiter Vorlesetag. Wie Eltern die Entwicklung ihres Kindes mit wenig Aufwand positiv beeinflussen können.
Jeder vierte Neuntklässler in Sachsen-Anhalt erreicht beim Lesen nicht den Mindeststandard. Das ergibt die jüngste Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Die Schüler aus Sachsen-Anhalt sind besser als der Bundesdurchschnitt von rund 32,5 Prozent. Auf Platz 1 liegt Sachsen mit 23,1 Prozent. Für den IQB-Bildungstrend 2022 wurden deutschlandweit per Zufallsverfahren ein oder zwei Klassen von wahllos gezogenen Schulen im vergangenen Jahr getestet.
Insgesamt haben sich mehr als 30.000 Schüler aus allen 16 Bundesländern daran beteiligt. Wie kann sich die Lesekompetenz in Zukunft bei Kindern und Jugendlichen verbessern? Und was können Eltern dazu beitragen?
Eltern solten Anreize schaffen
Eine Möglichkeit, um die Lesekompetenz bei Kindern zu steigern, ist in Sachsen-Anhalt der Vorlesewettbewerb „Lese-Krone“. Der Friedrich-Bödecker-Kreis und die Landesfachstelle für öffentliche Bibliotheken organisieren seit 15 Jahren einen landesweiten, mehrstufigen Wettbewerb für Schüler der dritten Klasse. Das Ziel ist es, für das Lesen einen spielerischen Anreiz zu bieten.
Am 16. November findet die finale Runde statt, die in diesem Jahr die Magdeburger Grundschule „Diesdorf“ organisiert. Die Leiterin der Bücherei Teutschenthal Dagmar Sonnenkalb hat die Kreisebene des Vorlesewettbewerbs im Saalekreis veranstaltet. „Vorlesen ist das Einfachste für die Eltern, aber auch das Allerwichtigste“, meint die Bibliothekarin. „Man erkennt, welchem Kind vorgelesen wird. Es verändert den Sprachschatz.“
Vorteil der Lesekompetenz: Es geht leichter in der Schule
Auch deswegen gibt es am 17. November den bundesweiten Vorlesetag. Bereits seit 2004 ruft die Initiative von „Die Zeit“, Stiftung Lesen und der Deutschen Bahn Stiftung jährlich zum Vorlesen auf. Das Motto lautet dieses Mal „Vorlesen verbindet“. Gemeinsames Vorlesen schafft nicht nur Nähe, es ist auch eine wichtige Voraussetzung, damit Kinder selbst gut lesen.
Außerdem soll es die Jüngsten darin bestärken, die Welt zu entdecken. Während beim ersten Aktionstag nicht ganz 2.000 Teilnehmer mitgemacht haben, beteiligen sich inzwischen in diesem Jahr rund 800.000 Menschen in Deutschland daran.
Doch inwiefern beeinflusst das Vorlesen die Lesekompetenz der Kinder? Michael Ritter, Professor für Grundschuldidaktik Deutsch und Ästhetische Bildung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, erklärt: „Vorlesen ist für Kinder eine frühe Erfahrung mit der Schrift. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Schriftsprache und mündlicher Sprache, wie wir sie im Alltag verwenden.“ Was genau das bringt? „Vorlesen erleichtert das Lesen- und Schreibenlernen in der Schule“, sagt Ritter.
Der in der vergangenen Woche veröffentlichte „Vorlesemonitor 2022“ zeigt, dass bundesweit immer weniger Eltern ihren Kindern vorlesen. Rund 39 Prozent der Ein- bis Achtjährigen wird selten oder nie vorgelesen. Der Anteil lag 2019 noch bei 32 Prozent. Kindern zwischen drei und fünf Jahren lesen Eltern laut der Studie am meisten vor. Das wird mit dem Schulbeginn deutlich weniger.
Auch Jörg Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, bestätigt, wie wichtig Vorlesen ist: „Kinder, denen in den ersten sechs Lebensjahren vorgelesen wurde, haben bessere kognitive Fähigkeiten und eine größere Empathie, das heißt, sie können sich besser in andere Menschen hineinversetzen.“
Maas zufolge haben diese Kinder außerdem einen doppelt so großen Wortschatz und können sich schneller auf verschiedene Erzählebenen einlassen als Kinder, denen nicht regelmäßig vorgelesen wurde. „Literarische Texte erweitern den kindlichen Vorstellungshorizont. Nicht nur den Wortschatz, sondern sie verbessern unter anderem auch den Satzbau und die Verwendung von Zeitformen“, meint Ritter.
Ein Aspekt, dem die Bibliothekarin Dagmar Sonnenkalb ebenfalls einen hohen Wert zuspricht, ist die gemeinsame Zeit beim Vorlesen. Und außerdem: „Eine schöne Geschichte kann so viel bewirken, gerade wenn es mal Probleme gibt.“ Vorlesen ist somit wertvolle Familienzeit.
Frühzeitig anzufangen lohnt sich
Aber wie bringen Eltern Vorlesen am besten in den turbulenten Alltag ein? „Sinnvoll ist es, regelmäßige Lesezeiten einzuführen, um das zu ritualisieren“, erklärt Ritter. Das sieht Maas von der Stiftung Lesen ebenso. „Es ist wichtig, dass Eltern ihren Kindern jeden Tag vorlesen. Wenn Eltern viel arbeiten, sollten sie sich zumindest am Wochenende gemeinsam Zeit nehmen. Hauptsache sie fangen frühzeitig damit an“, findet er.
Wie sich das Vorlesen am besten gestalten lässt, weiß Ritter: „Die Forschung zeigt, dass es sinnvoll ist, die Kinder in den Vorleseprozess interaktiv einzubeziehen. Das geht, indem Fragen zum Buch gestellt werden und ihnen Zeit gelassen wird, sich eigene Gedanken zu machen“, sagt der Experte. Jedoch eigne sich interaktives Lesen nicht für das klassische abendliche Vorleseritual, bei dem es primär um das Einschlafen geht. Zudem betont er, dass Kinder früh selbst entscheiden sollten, welche Bücher die Eltern vorlesen. Auch Wiederholungen haben Ritter zufolge einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Kinder.
Mit Vorlesen eine Basis bilden
Auf all diese vorteilhaften Auswirkungen soll der 17. November aufmerksam machen. Das Vorlesen setzt insgesamt mit wenig Aufwand eine Basis für die Entwicklung und die Bildung von Kindern. „Am besten schafft man Routinen – egal mit welcher Geschichte oder welchem Medium“, findet Jörg Maas.
Heutzutage muss es nämlich kein Buch mehr sein: Vorlesen klappt genauso gut auch mit Kinderbuch-Apps auf Tablet und Smartphone oder mit E-Book-Readern. Wenn sich wieder mehr Eltern Zeit für das Vorlesen nehmen, wäre zuhause eine gute Voraussetzung dafür geschaffen, dass Kinder und Jugendliche künftig besser mit der deutschen Sprache zurechtkommen.