1. MZ.de
  2. >
  3. Leben
  4. >
  5. Familie
  6. >
  7. Familienstreit: Und wer kämpft für die Mütter?

Familienstreit Und wer kämpft für die Mütter?

Mit einer Selbsthilfegruppe unterstützt Carola Wilcke Alleinerziehende bei Familienstreitigkeiten. Jetzt ist sie zu Deutschlands aufmüpfigster Frau gewählt worden.

Von Jessica Reitzig Aktualisiert: 01.07.2024, 12:55
Bei Sorgerechtsstreitigkeiten ist es  oft das Kind, das leidet.
Bei Sorgerechtsstreitigkeiten ist es oft das Kind, das leidet. (Foto: Imago/phototek)

Carola Wilke ist eine kleine und rundliche Frau, die Kraft hat für zehn. Die Sozialpädagogin betreibt eine Eltern-Kind-Einrichtung im sächsischen Görlitz, betreut hier Pflegekinder, und betreibt in einem sozialen Netzwerk die Gruppe der „Löwenmamas“.

Hier suchen rund 2.500 Mütter aus ganz Deutschland ihren Rat. Die Frauen haben schlechte Erfahrungen mit Polizei, Jugendamt und Familiengericht gemacht. Unübersehbar ist dabei folgendes: „Bei meinen Löwenmamas fällt immer wieder dieses eine Wort, es geht in fast jedem Fall um die sogenannte Bindungsintoleranz, und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, diesem Wort den Kampf anzusagen“, erklärt die 52-jährige Frau.

Alles Wichtige zu Trennung, Unterhalt, Zugewinn: Eine Scheidung kann richtig teuer werden: Wem nach einem Ehe-Aus was zusteht

Entfremdung als Grund für den Gerichtsentscheid

Seit rund 20 Jahren wird bei Gerichtsverhandlungen in Sorge- und Umgangsrechtsverfahren mit der „Bindungsintoleranz“ argumentiert. In diesem Zusammenhang fällt auch häufig die Abkürzung „PAS“, das „Parental Alienation Syndrome“.

Im deutschen Sprachraum übersetzen es Recht-experten in der Regel mit „Eltern-Kind-Endfremdung“, was von den führenden Fachverbänden der Ärzteschaft allerdings nicht als Diagnose anerkannt ist: „Elternteilen, meist Müttern, wird damit von Sachverständigen in deren Gutachten bescheinigt, sie zeigten fehlende ,Bindungsintoleranz’ und würden ,emotionalen Missbrauch’ betreiben“, schreiben renommierte Wissenschaftler in einer aktuellen Analyse.

Elternteilen, meist Müttern, wird damit von Sachverständigen in deren Gutachten bescheinigt, sie zeigten fehlende ,Bindungsintoleranz’ und würden ,emotionalen Missbrauch’ betreiben

aktuelle Analyse

Und weiter: „Infolgedessen wurden bereits mehrfach Kinder und Jugendliche gegen ihren Willen zu Besuchen bei dem abgelehnten Elternteil gezwungen.“ Zu den Wissenschaftlern gehört Professor Jörg Fegert, ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm und Präsident der Europäischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Obwohl der Verdacht auf Misshandlung bestand oder sogar Verurteilungen vorlagen, seien in manchen Fällen diesem Elternteil die Erziehungsfähigkeit zugesprochen und dem anderen verwehrt worden, so Fegert.

Carola Wilcke von der Selbsthilfegruppe„Löwenmamas“
Carola Wilcke von der Selbsthilfegruppe„Löwenmamas“
(Foto: privat)

Ein Phänomen, das Carola Wilcke nur zu gut kennt: „Mit Konstrukten wie der Bindungsintoleranz hat man sehr viel Elend geschaffen“, sagt Wilcke. Rund 1.000 Frauen hat die Sozialpädagogin und Pflegemutter in den vergangenen zehn Jahren beraten. In jedem Beratungsgespräch fiel dieses eine Wort: „Bindungsintoleranz wird als Totschlagargument an Familiengerichten benutzt“, sagt sie, „hauptsächlich gegen Mütter und in Konstellationen, in denen Umgangsprobleme, häusliche Gewalt oder sexueller Missbrauch angezeigt werden.“

Aus Wilckes Sicht geht das geschlechtsspezifisch gegen Frauen, die versuchen, ihre Kinder zu schützen. Obwohl sich Wissenschaftler und Experten in den vergangenen Jahren mehr und mehr zusammenschließen und aufklären, hört der Zulauf in Carola Wilckes Gruppe nicht auf, im Gegenteil: „Verfechter dieser Theorien kreieren immer neue Wortkonstellationen, um Verwirrung zu stiften und um Wissenschaftlichkeit vorzugaukeln“, sagt Wilcke.

Ein neuer Begriff sei etwa „TIK“, der „Trennungs-Induzierte-Kontaktabbruch“. „Diese pseudowissenschaftliche Wortneuschöpfung ist ganz frisch auf dem Markt“, erklärt die Löwenmama. Im Gebrauch ihrer Nutzer bedeute sie das Gleiche wie die Bindungsintoleranz.

Familiengericht: Sohn musste am Ende zum Vater

In einem aktuellen Fall berät Wilcke eine Mutter, deren dreijähriger Sohn nach Missbrauchsvorwürfen der Mutter gegen das familiäre Umfeld des Vaters vom Familiengericht in einem Heim untergebracht wurde. Aus Sicht der Richter hatte die Mutter die Vorwürfe konstruiert, um die Umgänge zu verhindern.

„Im Verfahren wurde damit gedroht, ihr das Sorgerecht zu entziehen, falls sie den Verdacht nicht fallen lassen würde“, erklärt Wilcke. „Aber die Mutter wollte ihr Kind schützen, und hielt nicht den Mund.“ Das betroffene Kind ist daraufhin in Obhut genommen worden, kam ins Heim und musste dann zum Vater ziehen. Die Mutter verlor das Sorgerecht. Inzwischen lebt der Junge seit eineinhalb Jahren bei seinem Vater. Dabei konnten die Missbrauchsvorwürfe nie abschließend aufgeklärt werden.

Die Mutter musste den Umgang mit ihrem Kind in einem zähen Ringen erkämpfen. Das Gericht hatte sie für „bindungsintolerant“ erklärt. Genau heißt es in dem Beschluss des Familiengerichts vom Dezember 2022: „Die Mutter hat den Umgang des Vaters seit der Trennung und bereits deutlich vor ihrem Missbrauchsverdacht und nun auch weiterhin behindert, ihn mit gravierenden Vorwürfen überhäuft und sich als gänzlich bindungsintolerant erwiesen.“

Ursprung in den USA

Begriffe wie „Bindungsintoleranz“, „Eltern-Kind-Entfremdung“ oder auch „Trennungs-Induzierte-Kontaktabbruch“ gehen auf den amerikanischen Kinderpsychiater Richard A. Gardner (1931-2003) zurück. Er wurde in den 1990er-Jahren als Gutachter in einigen prominenten Fällen herangezogen, in denen es um Vorwürfe von häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch ging.

US-amerikanische Familiengerichte folgen bereits seit Anfang der 2000er-Jahre Gardners Theorien nicht mehr. Etliche amerikanische Experten vertreten heute die Meinung, dass Gardner seine Theorien erfand, um speziell Mütter bei Vorwürfen zu häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch vor dem Familiengericht mundtot zu machen. Gardner habe das Ziel verfolgt, den Müttern die Kinder gezielt zu entziehen und sie den Tätern, also den Vätern, zuzuführen. Die Schriften von Gardner untermauern diese Sichtweise.

Er schreibt etwa: „Pädophilie kann das Überleben der menschlichen Spezies verbessern, indem sie Fortpflanzungszwecken dient.“ Ob Missbrauch als traumatisch zu bewerten ist, sei „eine Frage der sozialen Einstellung“, so Gardner. Sexuell missbrauchten Kindern könne geholfen werden, wenn sie lernten, dass „sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern nicht allgemein als verwerflich betrachtet“ würden.

Der kostenfreie Familiennewletter "Eltern-Ecke" kommt immer donnerstags.
Der kostenfreie Familiennewletter "Eltern-Ecke" kommt immer donnerstags.
(Illustration: Büttner)

Das könnte Sie auch interessieren: Hier kostenlos abonnieren: Alles zum Thema Familie in Sachsen-Anhalt in unserem neuen Newsletter

Die Vereinten Nationen haben Gardners Theorien, „PAS“ und seiner Verwendung in Sorge- und Umgangsrechtsverfahren kürzlich einen umfangreichen Bericht gewidmet. Darin kritisieren sie auch die deutschen Familiengerichte. „Mich haben zahlreiche Berichte von Betroffenen erreicht, die alle ein ganz ähnliches Problem beschreiben“, sagt UN-Sonderberichterstatterin Reem Alsalem.

Diese Berichte handeln von gravierenden Justizirrtümern, von Kindern und ihren Müttern, deren Aussagen über häusliche Gewalt und Missbrauch vor Familiengerichten nicht ernst genommen wurden. „Und das ist keine private Angelegenheit, hier geht es um die Einhaltung der Menschenrechte.“

Auszeichnung für Carola Wilcke

Anfang Juni wurde Carola Wilcke ausgezeichnet, und zwar als „Aufmüpfige Frau des Jahres“. Für Wilcke ein Meilenstein in ihrem Kampf für Mütter und Kinder. Die Stiftung unterstützt Frauen, die „aus der Reihe tanzen und die allein, ohne eine große Organisation im Rücken, etwas bewegen“, sagt Stiftungschefin Sigrid Metz-Göcke.

Was treibt Carola Wilcke an? „Ich habe selbst fürchterliche Erfahrungen gemacht“, sagt sie. Das Familiengericht habe massiv in den Lebensweg ihrer Kinder eingreifen wollen, und das ohne jede wissenschaftliche Grundlage. „Zum Glück gab es bei uns ein Happy End. Meine Kinder durften in meiner Obhut verbleiben und sind inzwischen erwachsen. Aber wir drei mussten da gemeinsam durch.“ Das habe bei Wilcke den Wunsch wachsen lassen, auch anderen Müttern und Kindern in ähnlichen Situationen zu helfen.