1. MZ.de
  2. >
  3. Leben
  4. >
  5. Familie
  6. >
  7. Sprachförderung und Leseförderung: Wie ein „Bücherkrankenhaus“ Kita-Kindern den Wert von Büchern beibringt

Sprachförderung und Leseförderung Wie ein „Bücherkrankenhaus“ Kita-Kindern den Wert von Büchern beibringt

Reparieren statt wegwerfen: In Halles Kitas lernen Kinder mit dem „Bücherkrankenhaus“, beschädigte Bücher zu flicken – und entwickeln eine neue Beziehung zur Literatur.

Von Helene Kilb 28.04.2025, 14:21
Klebeband, Schere, Zeit und Geduld: Mehr braucht es oft nicht, um ein geliebtes Buch zu reparieren.
Klebeband, Schere, Zeit und Geduld: Mehr braucht es oft nicht, um ein geliebtes Buch zu reparieren. (Foto: Christine Hertel)

Kaputte Bücher landen oft im Müll – doch in Halles Kitas lernen Kinder, ihre Lieblingsgeschichten zu retten. Mit dem „Bücherkrankenhaus“ fördern Kristin Lucius und Franziska Kreutzer nicht nur Nachhaltigkeit, sondern auch die Liebe zu Büchern und das Selbstbewusstsein der Jüngsten.

Lesen Sie auch: Das Sprachniveau bei Kindern sinkt seit Jahren. Dabei helfen oft kleine Veränderungen, um den Nachwuchs zum Sprechen zu motivieren. Expertinnen geben Tipps für Eltern.

Reparieren statt Wegwerfen: So funktioniert das „Bücherkrankenhaus“

Ein abgeplatzter Buchrücken, lose Seiten oder ein kleiner Riss: Das sind die häufigsten Blessuren bei den Patienten, die Ende April bei Kristin Lucius und Franziska Kreutzer auf dem Behandlungstisch liegen. Beide Frauen setzen sich beim Eigenbetrieb Kindertagesstätten der Stadt Halle für Sprachförderung ein, Lucius als Sprachberaterin und Kreutzer als Fachberaterin für sprachliche Bildung.

Lesen Sie auch: Spielen ohne Spielzeug: Was Kinder und Erzieher in der Köthener Kita „Angelika Hartmann“ gelernt haben

Sie haben 2023 das „Bücherkrankenhaus“ ins Leben gerufen, bei dem sie gemeinsam mit Kita-Kindern deren Lieblingsbücher reparieren. Dazu sind sie und viele ihrer Kolleginnen und Kollegen in weiße Kittel geschlüpft und haben vom 23. bis 25. April 2025 16 Kitas in Halle besucht. „Wir arbeiten mit Gruppen von immer zehn Kindern“, sagt Kreutzer.

Lesen Sie auch: Einzigartiges Förderprojekt: Könnte Hallesche Kita deutschen Lesepreis abstauben?

„Gemeinsam untersuchen wir ihre kaputten Bücher, stellen eine Diagnose und überlegen, wie das Buch wieder gesund werden könnte: etwa mit Kleben, Tackern oder Leimen.“

Lesen Sie auch: Sprachförderung für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund im Eisleber „Apfelbäumchen“

Am Ende erhält jede Kita einen Erste-Hilfe-Koffer, mit dem die Kinder bei Bedarf weitere Patienten behandeln können.

Warum kaputte Bücher eine wertvolle Chance bieten

Bücher reparieren, ginge das nicht auch ohne extra Aktion? Theoretisch schon, meint die Sprachberaterin Lucius. „Aber bei den vielen Familien, die ich über die letzten Jahre begleitet habe, zeigte sich mehrheitlich: Bücher reparieren ist nicht mehr so in Mode.“

Lesen Sie auch: „Warum jedes dritte Kind in Mansfeld-Südharz schlecht sprechen kann“ Ein Bericht über die alarmierende Zunahme sprachlicher Defizite bei Vorschulkindern in Mansfeld-Südharz und die Herausforderungen für Kitas und Logopäden.

Das mag daran liegen, dass Eltern zerschlissene Exemplare eher durch neue Literatur ersetzen. Oder daran, dass das Reparieren nicht nötig ist: Denn in manchen Familien werden Bücher wie ein „Heiliger Gral“ behandelt, sagt Kreutzer. „Ein Buch zu lesen, ist etwas Besonderes, man achtet auf einen ordentlichen Umgang und liest – übertrieben gesagt – nur im Sitzen und mit frisch gewaschenen Händen.

Lesen beginnt mit Liebe: Warum frühe Bucherfahrungen so wichtig sind, erfahren Kinder derzeit in einem Projekt in Halle.
Lesen beginnt mit Liebe: Warum frühe Bucherfahrungen so wichtig sind, erfahren Kinder derzeit in einem Projekt in Halle.
(Foto: Christine Hertel)

Das ist natürlich verständlich, wo ein gutes Kinderbuch durchaus 20 Euro kostet.“ Aus pädagogischer Sicht ist es jedoch sinnvoller, Kindern einen freien Umgang mit Büchern zu ermöglichen und diese bei Bedarf gemeinsam zu flicken. „Es ist wichtig, dass Kinder ihre Bücher nicht nur lesen, sondern auch leben“, sagt Kreutzer. „Das heißt nicht, dass sie mutwillig alle Seiten zerreißen sollen.“ Aber Bücher dürfen zum Spielen einladen.

Lesen Sie auch: „Immer mehr Kinder im Saalekreis haben Sprachdefizite“. Die Schuleingangsuntersuchungen im Saalekreis zeigen einen Anstieg von Artikulations- und Grammatikstörungen bei Kindern.

Dann erzählt Kreutzer von einer Kollegin: „Sie hatte mit ihrem Sohn ein Buch gelesen, in dem eine Hexe auf einem Besen fliegt. Und am Ende nahm der Sohn das Buch und rutschte damit auf dem Küchenboden herum, um das Fliegen nachzustellen.“ Das sei für Bücherfans erst einmal schwer zu ertragen. „Doch es ist trotzdem ein wichtiges Moment.“

Bücher leben und erleben: Warum Kinder Freiraum brauchen

Bis Kinder Bücher aus eigenem Antrieb halbwegs pfleglich behandeln, ist Toleranz vonseiten der Eltern gefragt: „Anfangs wissen Kinder oft nicht, wie genau sie mit Büchern umgehen sollen“, sagt Kreutzer. „Da wird vielleicht reingemalt oder eine Seite geht verloren. Das sind aber Dinge, die Eltern ein Stück weit zulassen und akzeptieren müssen. Umso wichtiger ist es, Kindern zu zeigen: Man kann Bücher reparieren.“

Ist das Kinderbuch wieder heile, kann nach Herzenslust geschmökert werden.
Ist das Kinderbuch wieder heile, kann nach Herzenslust geschmökert werden.
(Foto: Christine Hertel)

Kristin Lucius ergänzt: „Kinder merken dabei: Bücher sind mehr als nur Papier. Es sind liebgewonnene Freunde – gerade für Kinder, die manche Geschichten immer und immer wieder hören möchten. Und insofern ist es ein herziger Gedanke, dass ein Kind seinem Bücherfreund helfen kann, damit es ihm wieder gut geht.

Reparieren macht schlau: Mehr als nur Nachhaltigkeit

Es ist eine Erfahrung von Wirksamkeit in dieser Welt.“ Im besten Fall lernen Kinder so ohne große Regeln oder Tadeln, dass Bücher sorgsam zu behandeln sind. Auch hat das Flicken Nebeneffekte, die über Nachhaltigkeit hinausgehen.

Lesen Sie auch: „Wie in Zeitz Kinderträume wahr werden“. Die Kita „Kinderträume“ in Zeitz setzt auf Musik und Tanz in der Spracherziehung, um die Sprachentwicklung der Kinder zu fördern.

„Reparieren macht schlau und glücklich“, sagt Kreutzer. „Kopf und Hände vernetzen sich und am Ende steht ein tolles Ergebnis.“ Und: Eltern, die Bücher-Patienten zuhause untersuchen, investieren gleichzeitig in die Beziehung zu ihrem Kind. „Dafür braucht es meistens nur Klebeband, eine Schere, etwas Zeit und Geduld“, sagt Kreutzer.

Hemmschwellen abbauen: Wege zu mehr Lesefreude in Familien

Daneben hat das Bücherkrankenhaus noch eine weitere Mission: die Hemmschwelle durchbrechen, die in manchen Familien existiert. „In unseren Kitas betreuen wir ganz unterschiedliche Sozialräume“, sagt die Sprachberaterin Lucius. „Daher wissen wir: In vielen Familien sind ganz wenig bis gar keine Bücher vorhanden. Häufig fehlt den Eltern das Geld für Bücher oder eigene schöne Erfahrungen mit Literatur. Und auch Bibliotheken nutzen Familien leider zu wenig.

Bücher leben und erleben: Dabei hilft das Bücherkrankenhaus.
Bücher leben und erleben: Dabei hilft das Bücherkrankenhaus.
(Foto: Christine Hertel)

„Eltern sind sich zum Beispiel unsicher, wie das Ausleihsystem funktioniert, können vielleicht selbst nicht lesen oder haben Angst vor Kosten“, ergänzt Kreutzer. Umso wichtiger ist es, den Eintritt in die Welt der Bücher barrierearm zu gestalten – und zwar schon von klein auf: Das funktioniert gut mit einem Kita-Ausflug in die Stadtbibliothek, mit einem Ausleih-Angebot direkt in der Kita und eben auch mit dem Bücherkrankenhaus.

Kleine Bibliothekare: Wie Kinder Verantwortung für Bücher übernehmen

„In dem Moment, in dem Kinder sich um die Bücher kümmern, entdecken sie vielleicht Details, die sie bisher nicht wahrgenommen haben“, sagt Kreutzer. „So entwickelt sich nach und nach eine positive Beziehung zu Büchern.“

In der Kita Lutherstraße, die zum Eigenbetrieb gehört, sind eine hauseigene Bibliothek und ein Bücherkrankenhaus sogar gekoppelt: „Wir haben dort eine Kinderbibliothek, bei der Kinder ab drei Jahren als Bibliothekshelfer oder -helferinnen mitanpacken“, erzählt Lucius.

„Sie haben eine Woche lang Dienst und schauen unter anderem regelmäßig nach, ob es den Büchern gut geht oder ob eins vielleicht in die Reparaturkiste muss.“ Das Amt erfülle die Kinder mit Stolz – und fördere so indirekt die Begeisterung für die papiernen Patienten. Eine gute Voraussetzung für das weitere Leben, wie Franziska Kreutzer sagt: „Denn Lesen und Leseförderung beginnt immer mit einer Liebe zu Büchern und Geschichten.“