Schulstart Warum eine Schule in Sachsen-Anhalt später beginnt
Der Unterrichtsbeginn um 7.30 Uhr morgens kann Jugendlichen schaden. Es drohen Depressionen, Diabetes und Misserfolge im Beruf. Eine Schule in Halle zeigt, wie es anders geht.
Halle/MZ. Morgens um 6 Uhr mit dem Weckerklingeln aufstehen. Im Halbschlaf anziehen, viel zu wenig frühstücken, weil der Magen noch nicht will, zur Bushaltestelle schleppen. Ebenso im Halbschlaf die erste Schulstunde irgendwie überstehen, die Augen wach halten und darauf hoffen, bei einer Frage nicht kalt erwischt zu werden oder gar eine Klassenarbeit schreiben zu müssen. So sieht der Start in den Tag für viele Kinder und Jugendliche in Deutschland aus. Für fast alle sogar.
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Doch es gibt Ausnahmen. Die Schülerinnen und Schüler des Lyonel-Feininger-Gymnasiums in Halle können länger schlafen – als einzige in einer öffentlichen Schule in Sachsen-Anhalt. Denn dafür bedarf es einer Sondergenehmigung des Landesschulamtes. Mit dieser beginnt der Unterricht im Feininger-Gymnasium seit dem Jahr 2020 erst um 8.30 Uhr.
Ich kenne nur Vorteile. Es ist wesentlich entspannter.
Schulleiter Jan Riedel aus Halle
Weit mehr als 70 Prozent der Eltern hätten sich in einer groß angelegten Umfrage, die das Gymnasium initiiert hatte, für dieses Modell entschieden, erinnert sich Schulleiter Jan Riedel. „Ich kenne nur Vorteile“, sagt er nun nach fünf erprobten Jahren. „Es ist wesentlich entspannter.“
Die Kollegen bekämen ihren Morgen besser organisiert, es herrsche generell eine positive Grundstimmung und: „Es ist morgens hell.“ Für die Zeitumstellung wurde die Tagesstruktur in der Schule angepasst. Es wird im Block unterrichtet, mittags gibt es eine Stunde Pause und um 15.10 Uhr ist der Unterricht in der Regel zu Ende. „Die Schule sehe ich auch als Kulturort und Lebensraum“, erläutert Riedel, „keinen Ort, wo man so früh wie möglich hinkommt, um dann schnell wieder zu verschwinden.“
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Da hier in Ostdeutschland aber viele Eltern sehr zeitig mit der Arbeit beginnen, gebe es ein Morgenangebot ab 7.30 Uhr. Hausaufgaben, Betreuung, einfach Ankommenszeit so die Offerte, die laut Riedel aber nicht viele nutzen. „Ab der 7. Klasse spielt das auch keine Rolle mehr, weil die Kinder dann kaum noch auf die Eltern angewiesen sind.“
„Fast alle profitieren“ von einem späteren Schulanffang
Ähnliches zeigt sich in Alsdorf bei Aachen. Dort können Schülerinnen und Schüler der Oberstufe seit 2016 wählen, ob sie zur ersten oder zur zweiten Stunde beginnen. Die erste Stunde ist eine sogenannte „Dalton-Stunde“, die Schülerinnen und Schüler frei gestalten können. Jugendliche, die in der Zeit noch schlafen, können dies in einer Freistunde oder nach Schulschluss nachholen.
Nach einer Testphase wurde die Gleitzeit fest eingeführt. Schlafforscherin Eva Winnebeck begleitete das Projekt und sagte dem MDR: „Fast alle Schüler haben vom späteren Unterrichtsbeginn profitiert.“ Während einige trotz Schlafmangel lieber früher kommen, um mittags mehr Freizeit und damit einen Ausgleich zur Schule zu haben, sind andere dankbar für die Extraminuten im Bett.
Fast alle Schüler haben vom späteren Unterrichtsbeginn profitiert.
Schlafforscherin Eva Winnebeck
Doch trotz der Forderung aus der Wissenschaft, den Schulbeginn generell nach hinten zu verschieben, trotz Studien, die Schlafmangel, Konzentrationsstörungen und Krankheiten wie Diabetes und Depressionen in Verbindung mit dem frühen Unterrichtsstart bringen, trotz der positiven Beispiele aus Halle, Alsdorf, Hamburg, Leipzig, wo Schulen die Lernzeit angepasst haben, gibt es flächendeckend noch immer die Meinung: Die Kinder haben um 7.30, 7.50, 8 Uhr die Schulbank zu drücken.
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Wer müde ist, ist zu spät ins Bett gegangen und sucht Ausreden für schlechte Leistungen. Der Glaubenssatz in der Gesellschaft hält nach wie vor. Dabei ist Gleitzeit an vielen Arbeitsstellen längst eingeführt. Zum einen, damit Unternehmen attraktiver für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden.
Zum anderen, weil in der Wissenschaft unumstritten ist, dass Menschen zu individuellen Zeitpunkten ihre Höchstleistung erreichen. Sprich: Gleitzeit verspricht mehr Zufriedenheit, mehr Leistung und damit im Idealfall auch mehr Erfolg und Gewinn für das Unternehmen. In der Wirtschaft hat man das verstanden, in der Schule ist das Modell aber noch fernab jeglicher Realität.
Sozialer Jetlag als Folge
Dabei könnte eine Konsequenz aus dem schlechten Abschneiden bei der Pisa-Studie sein, nicht nur Lerninhalte und Lernmethoden, sondern auch Lernzeiten neu zu denken. Vor allem Jugendliche leiden nämlich unter dem sozialen Jetlag. Der Chronobiologe Till Roenneberg von der Ludwig-Maximilians-Universität in München erfand 2006 diesen Begriff, der beschreibt, dass viele Menschen gegen ihre innere Uhr, gegen ihren Biorhythmus leben.
Das wiederum hat Folgen wie bei einem Jetlag, den Reisende erleben, wenn sie sich zwischen verschiedenen Zeitzonen bewegen: Auch wenn die Uhr sagt, man solle schlafen, will man einfach nicht einschlafen, dazu kommen eine starke Müdigkeit, verminderte Leistungsfähigkeit und Aufmerksamkeit, bis hin zu Kopf- und Magen-Darm-Beschwerden.
Doch während der normale Jetlag spätestens zwei Wochen nach Ankunft in der neuen Zeitzone abgeklungen ist, bleibt der soziale Jetlag, bis sich die Schlafsituation ändert. Und auf die haben Schülerinnen und Schüler kaum Einfluss. Biologisch gesehen gibt es drei Schlaftypen, umgangssprachlich als Frühaufsteher, Normalaufsteher und Langschläfer bekannt. Während Kinder häufig früh auf und auch leistungsbereit sind, verändert sich das im Alter von 13, 14 Jahren, warum, ist noch nicht erforscht.
Fakt ist: Bei Jugendlichen verschiebt sich der Schlafrhythmus nach hinten, sie schlafen abends deutlich später ein, haben morgens also noch ein Schlafbedürfnis. Selbst wenn Teenies früher ins Bett gehen, werden sie dort nur wach liegen.
In einer Studie der Uni Marburg, in der das Schlafverhalten von Schülerinnen, Schülern und Auszubildenden untersucht wurde, stellten die Wissenschaftler fest, dass ein Großteil unter Schlafmangel leidet. Durchschnittlich schlafen sie statt der empfohlenen acht bis zehn Stunden nur 6,7 Stunden unter der Woche, dafür aber neun Stunden am Wochenende.
Die Forscher machen dafür vor allem einen Faktor verantwortlich: den frühen Beginn der Schule oder der Arbeit. Manfred Betz, Mitautor der Studie, sagte: „Sie leiden verstärkt an gesundheitlichen Problemen wie psychischen Beschwerden, Kopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden und fehlen häufiger am Arbeitsplatz oder in der Schule.“ Eine starke Tagesmüdigkeit führe auch zu deutlich erhöhter Unfallgefährdung.
Rechtlicher Rahmen fehlt oft
Nach den bisherigen Erfahrungen könnte eine Lösung durchaus darin liegen, die frühen Zeiten an Grundschulen beizubehalten, an weiterführenden Schulen aber flexibler zu reagieren und Gleitzeiten einzuführen.
Dafür müssten aber zumindest einige Bundesländer ihre Vorschriften ändern. Während Schulen in Sachsen oder Schleswig-Holstein etwa selbst über den Unterrichtsstart entscheiden dürfen, ist in anderen wie in Sachsen-Anhalt ein Schulbeginn zwischen 7Uhr und 8.15Uhr bindend. „Über die genaue Festlegung in diesem Zeitfenster entscheidet die einzelne Schule durch einen Gesamtkonferenzbeschluss“, erklärt Tobias Kühne, Sprecher des Landesschulamtes Sachsen-Anhalt.
Eine Schule könne allerdings nicht völlig frei und losgelöst agieren. Vor allem im ländliche Raum müsse der Schülerverkehr berücksichtigt werden, denn alle Schülerinnen und Schüler sollten zum Unterrichtsbeginn zuverlässig vor Ort sein können. Im Feininger-Gymnasium in Halles Innenstadt ist das kein Problem. Im Gegenteil: „Während rund um 7.30 Uhr Bus und Bahn noch rammelvoll sind, hat sich die Situation eine Stunde später entspannt.“ Ein weiterer Vorteil, den Direktor Jan Riedel in seinem Modell sieht. Zurückdrehen möchte er die Uhr für den Schulstart jedenfalls nicht mehr.