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Hilfe für potentielle Schulabbrecher Eine Klasse für diejenigen, die nicht ins Schulsystem passen

Zwei Tage Unterricht, drei Tage Praktikum – in Sachsen-Anhalt können potenzielle Schulabbrecher im zweijährigen Modell „Produktives Lernen in Schule und Betrieb“ einen Abschluss auf Hauptschulniveau schaffen. Welche Erfahrungen aus der DDR dabei eine Rolle spielen.

Von Joachim Göres 24.03.2025, 14:53
Comenius-Gemeinschaftsschule in Salzwedel: Die beiden PL-Klassenlehrerinnen Kirsten Hartwich (links) und Stefanie Lerche diskutieren über die Themen im Unterricht.
Comenius-Gemeinschaftsschule in Salzwedel: Die beiden PL-Klassenlehrerinnen Kirsten Hartwich (links) und Stefanie Lerche diskutieren über die Themen im Unterricht. (Foto: Joachim Göres)

Magdeburg/Salzwedel. Letzte Stunde in der 8. Klasse der Ganztagsgemeinschaftsschule Comenius in Salzwedel. Heute ist Valentinstag – und aus diesem Anlass haben die zwölf Jungen und vier Mädchen Zettel gezogen, auf dem der Name eines Klassenkameraden steht. Die Aufgabe: Ein Herz aufmalen und ein Kompliment für die jeweilige Person aufschreiben. Die Begeisterung hält sich in Grenzen. „Muss nicht stimmen, oder?“, fragt einer in die Runde, ein anderer stöhnt: „Ich kann kein Herz malen.“

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Nacheinander sollen die Schülerinnen und Schüler aufstehen und vorlesen, was auf dem Zettel steht. „Du bist ein cooler Typ“ oder „Du bist sehr sympathisch“ – solche Komplimente gehen schnell von den Lippen. Schwieriger wird es für einige Jungen, die eine Mitschülerin gezogen haben. Beim Satz „Du hast eine tolle Ausstrahlung“ oder „Du hast einen Traumkörper“ wird manches Gesicht rot. Über Gefühle sprechen – das ist das Ziel von Kirsten Hartwich. Sie unterrichtet mit Stefanie Lerche zusammen eine sogenannte PL-Klasse: Jugendliche ab 14 Jahren aufwärts, deren Hauptschulabschluss gefährdet ist.

Welche Schulen Produktives Lernen anbieten

Klassen für Produktives Lernen in Sachsen-Anhalt gibt es an Sekundar- oder Gemeinschaftsschulen in Halle (3x), Magdeburg (2x), Wittenberg (2x), Stendal, Gardelegen, Raguhn, Wanzleben, Wolmirstedt, Weißenfels, Dessau-Roßlau, Wernigerode, Möckern, Sangerhausen, Hettstedt, Bad Dürrenberg, Aschersleben, Könnern, Salzwedel, Schönebeck und Bernburg.

Schüler, die in eine PL-Klasse wechseln möchten, müssen sich bei der jeweiligen Schule schriftlich und auch mündlich bewerben. Die Klassenlehrer wollen so einen Eindruck von der Motivation bekommen – wer etwa sagt, dass er nicht kostenlos in Praktika arbeiten möchte, wird in der Regel abgelehnt.

Die Comenius-Gemeinschaftsschule in Salzwedel
Die Comenius-Gemeinschaftsschule in Salzwedel
(Foto: Joachim Göres)

Gründe gibt es einige: Weil sie in der Vergangenheit die Schule geschwänzt haben. Wegen häufiger Krankheitstage. Aufgrund nicht ausreichender Deutschkenntnisse bei eingewanderten Jugendlichen. Weil sie immer wieder durch Disziplinprobleme auffallen. Wegen Lern- und Konzentrationsschwächen. „Sie passen nicht ins Schulsystem“, sagt Lerche.

„Es geht oft nicht um fehlende Leistungen, sondern um ein niedriges Selbstwertgefühl, weil in der Vergangenheit andere Schüler und auch Lehrer oft abschätzig auf sie reagierten.“ Daraus entwickelten sich häufig Konflikte – zu denen es bei kontroversen Themen mitunter auch in der PL-Klasse kommen kann, wenn die Emotionen hochkochen. Dann machen die Lehrerinnen schnell deutlich, dass sie auf einen respektvollen Umgang Wert legen.

Hartwich betont gleichzeitig, wie wichtig Lob und Mutmachen sind, weil Schule bislang nur mit Versagen verbunden ist: „Bei uns fangen alle bei Null an. Sie erfahren in dieser Klasse Wertschätzung und entdecken positive Seiten an sich. Der Zusammenhalt in der Klasse ist groß, denn die gemeinsame Erfahrung der Ablehnung schweißt zusammen.“

Mobbing oder Ablehnung in der Schule

PL-Klasse – das ist die Abkürzung für „Produktives Lernen in Schule und Betrieb“. In Sachsen-Anhalt bieten 24 Schulen solche Klassen an, die über zwei Jahre laufen. Kleine Gruppen, die zum Teil von zwei Lehrkräften unterrichtet werden.

Zum Konzept gehört der Unterricht an zwei Tagen die Woche in den Fächern Deutsch, Mathe, Englisch und Gesellschaftswissenschaften. Prüfungen und Klassenarbeiten gibt es keine, dafür aber viele rund 15-minütige Präsentationen zu selbst gewählten Themen, die benotet werden. Am Ende muss man die Hälfte der möglichen Punkte erreicht haben, um nach Klasse Neun einen Abschluss zu bekommen, der einem Hauptschulabschluss entspricht. An den übrigen drei Wochentagen machen die Jugendlichen in selbst ausgewählten Betrieben Praktika über jeweils drei Monate. Insgesamt lernen sie so sechs verschiedene Betriebe kennen, ihre Erfahrungen stellen sie in der Klasse vor.

„Diese Praktika sind sehr wichtig für die Motivation. Die Schüler können dabei entdecken, welcher Beruf ihnen liegt. Arbeitgeber lernen die Jugendlichen näher kennen und finden so oft geeignete Auszubildende. Noten spielen dabei für Chefs oft nur eine untergeordnete Rolle“, sagt Hartwich. Der 15-jährige Liron absolviert derzeit ein Praktikum beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland beim Projekt Grünes Band: An der einstigen innerdeutschen Grenze gibt es durch die lange Unzugänglichkeit mehr als 1.000 seltene Tiere und Pflanzen, die durch den BUND-Einsatz geschützt werden sollen. „Das Praktikum gefällt mir gut“, sagt Liron, der nach dem Ende der Schulzeit eine Ausbildung zum Sozialassistenten machen möchte.

„Hier komme ich besser klar, ich fühle mich wohler.“

Liron (15), Schüler einer PL-Klasse

An seinen früheren Schulen hatte er oft Ärger, weil er sich nicht konzentrieren konnte und den Unterricht gestört hat. „Hier komme ich besser klar, ich fühle mich wohler.“ Das bestätigt Cedric, der an seiner alten Schule wegen einer Sechs in Mathematik die Versetzung nicht geschafft hat. „Ich habe mich ausgeschlossen gefühlt, weil ich so schlecht in Mathe war. Hier erklären die Lehrerinnen den Stoff besser und die Atmosphäre in der Klasse ist besser“, sagt der 16-Jährige. Er macht gerade ein Praktikum in einem Baumarkt und kann sich vorstellen, später mit einer Ausbildung zum Lageristen zu beginnen.

Die Praktika spielen auch im Schulunterricht eine Rolle – an Aufgaben aus dem betrieblichen Alltag lernen Schülerinnen und Schüler beispielsweise, wie man bestimmte Berechnungen durchführt. Zur Motivation trägt auch bei, dass die eigenen Interessen gefördert werden. Nach Schulschluss um 12.30 Uhr arbeiten Cedric und Liron noch eine Stunde alleine im Computerraum an der Präsentation zu ihren selbst gewählten Themen 1. FC Magdeburg beziehungsweise Skinheads.

Die Präsentation eines PL-Schülers über sein Praktikum
Die Präsentation eines PL-Schülers über sein Praktikum
(Foto: Joachim Göres)

Nebenan im Klassenraum stehen Lerche und Hartwich als Ansprechpartnerinnen bereit. Sie besprechen miteinander den Schultag, der wie immer mit einer Abschlussrunde endete. Dabei soll jeder Jugendliche sein heutiges Verhalten und seine Leistung einschätzen. Habe ich aufgepasst? War ich pünktlich? Habe ich alles für den Unterricht dabei gehabt? Jeder schlägt eine Punktzahl vor, die von Lerche und Hartwich bestätigt werden muss.

Niemand schätzt sich besser ein als ihre Lehrerinnen, wenige beurteilen sich negativer und die Lehrkräfte korrigieren die Punkte nach oben, mit Hinweisen wie „Nicht ablenken lassen“ oder „Bring beim nächsten Mal einen Pullover mit, damit du nicht frierst“. Hartwich und Lerche sind in den zwei Jahren die einzigen Lehrkräfte in der PL-Klasse. „Dadurch haben wir eine sehr enge Beziehung zu den Jugendlichen. Das ist für viele von Vorteil, weil für sie feste Bezugspersonen wichtig sind“, sagt Hartwich.

PL-Klassen in Sachsen-Anhalt: Erfolg bei 76 Prozent

Die Universität Magdeburg hat in einer Begleituntersuchung festgestellt, dass 76 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus den PL-Klassen in Sachsen-Anhalt einen Schulabschluss schaffen, der mit einem Hauptschulabschluss vergleichbar ist. Lerche ergänzt: „Von unseren Abgängern hat fast jeder einen Ausbildungsplatz bekommen.“

Rund 50.000 Jugendliche verlassen bundesweit jedes Jahr am Ende ihrer Pflichtschulzeit die Schule ohne Hauptschulabschluss. Der Anteil der Jungen liegt bei 60 Prozent, der Anteil unter ausländischen Jugendlichen ist dreimal höher als unter gleichaltrigen Deutschen. Bundesweit verließen zuletzt rund sechs Prozent der Schüler ohne Abschluss die Schule. In Sachsen-Anhalt liegt die Zahl weit höher. Laut Statistischem Bundesamt gingen 2023 2.346 Schüler ohne einen Hauptschulabschluss von den Schulen ab.

Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss, Statistisches Bundesamt 2023
Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss, Statistisches Bundesamt 2023
(Grafik MRM/Tobias Büttner)

Das sind 12,5 Prozent aller Abgänger, der Spitzenwert. Auch in den anderen ostdeutschen Bundesländern lag der Anteil deutlich über dem Durchschnitt. Dies dürfte ein Grund sein, warum neben Sachsen-Anhalt auch Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg, Sachsen und Thüringen in ähnlicher Form das Produktive Lernen anbieten.

Ein weiterer Grund könnten die Erfahrungen des DDR-Schulsystems sein, das ab Ende der 50er Jahre ab der 7. Klasse einen „Unterrichtstag in der Produktion“ als Pflichtfach vorsah, um eine Verbindung zwischen Schule und Arbeitsalltag zu schaffen. Das Fach beinhaltete im wöchentlichen Wechsel eine theoretische „Einführung in die sozialistische Produktion“ und die praktische „Produktive Arbeit“ in einem Betrieb oder der Landwirtschaft.

Inwieweit die dort gemachten Erfahrungen für Jugendliche motivierend wirkten, hängt vom Einzelfall ab – nicht selten waren sie angesichts der VEB- und LPG-Realität ernüchtert.