Erziehung Ist es egoistisch, wenn Eltern auf ihre eigenen Bedürfnisse achten?
Die neue Elterngeneration will alles richtig machen und vieles besser als die eigenen Eltern. Dabei vergessen sie oft sich selbst. „Bindung ohne Burnout“, dafür plädiert Autorin Nora Imlau. 60 Prozent seien gut genug
Bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung steht bei Eltern hoch im Kurs: Immer auf Augenhöhe und in Verbindung mit dem Kind sein, die Bedürfnisse sehen und erfüllen und bloß nicht schimpfen. Die Autorin Nora Imlau verspricht jetzt Abhilfe. Sie hat Lena Högemann erklärt, wie Eltern zugewandt sein und trotzdem auf ihre eigenen Bedürfnisse achten können.
In Ihrem neuen Buch „Bindung ohne Burnout“ geht es vor allem um Eltern, die ihre Kinder bindungsorientiert erziehen wollen. Sie beschreiben, dass viele von ihnen vor der Selbstaufgabe und dem Burnout stehen. Wie kommt das?
Nora Imlau: Wir haben eine sehr reflektierte Elterngeneration, die eine riesige Verantwortung spürt, weil sie weiß, dass die ersten Jahre sehr prägend für Kinder sind. Sie wollen die psychologisch besten Eltern für ihre Kinder sein. Das sorgt dafür, dass Eltern sich der bindungsorientierten Elternschaft verschreiben und sie zu einem ultimativen Standard zu erheben. Sie versuchen, überall das Beste zu geben, bei der Ernährung, den Klamotten, dem sichersten Kindersitz, aber auch immer verständnisvoll zu sein und nie zu schimpfen.
Wieso ist es gar nicht gut, wenn Eltern perfekte Eltern sein wollen?Nora Imlau: Das kann für die Kinder eine enorme Belastung sein, wenn sie merken, dass der ganze Fokus nur auf ihnen als Kind liegt. Dieser Anspruch der Eltern wirklich immer zugewandt und verständnisvoll zu sein, trägt wahnsinnig viel Stress in die Eltern-Kind-Beziehung. Und Stress ist für die Beziehung zwischen Kindern und Eltern gar nicht förderlich.
Wenn Eltern versuchen, einen ganz hohen Standard zu leben, kann es sein, dass sie regelmäßig krasse Einbrüche erleben, in denen sie gar nicht mehr zugewandt sein können. Für Kinder wäre es viel besser, wenn wir uns konstant bei 60 Prozent verlässlicher Feinfühligkeit bewegen würden, mit vielen Fehlern und Schwächen, aber nicht mit diesen ganz krassen Einbrüchen, bei denen wir dann nur noch rumschreien und drohen, weil wir so ausgebrannt und erschöpft sind.
Während immer mehr Eltern und gerade Mütter auf unsichtbare Care-Arbeit aufmerksam machen, sagen andere Mütter, das Kind zu betreuen sei ja keine Arbeit. Man dürfe Kinderbetreuung nicht mit Arbeit gleichsetzen.
Nora Imlau: Das ist eine ganz komische Debatte in Deutschland. Da steckt auch dieser deutsche Muttermythos dahinter, der sagt: „Kinder zu haben ist keine Arbeit, es ist pures Glück.“ Die Unterscheidung ist recht einfach: Wir haben Zeit, die wir zu unserer eigenen Verfügung haben, das ist Freizeit. Und dann gibt es Zeit, in denen wir nicht frei sind, zu tun, was wir möchten, weil wir eine Verantwortung haben. Das ist dann Arbeit. Das kann Erwerbsarbeit sein, der Haushalt oder die Kinderbetreuung. Ich sage meinen Kindern immer: Ich habe zwei Traumjobs, der eine ist, zu schreiben und der andere ist, eure Mutter zu sein. Beide Jobs fordern mich sehr, beide Jobs haben schöne und nicht so schöne Seiten. Care-Arbeit ist natürlich Arbeit und Arbeit darf auch Spaß machen.
Es gibt so viele Ansprüche an Eltern. Einer ist ja, möglichst lange ohne Bildschirmmedien auszukommen. Wie stehen Sie dazu?
Nora Imlau: Ich habe als Kind ganz wenig fernsehen dürfen, meine Eltern waren da sehr stolz drauf. Das war ein starker Glaubenssatz bei mir, ich dachte: Gute Eltern haben so viel Freude mit ihrem Kind, die brauchen gar kein Fernsehen. Beim ersten Kind habe ich das dann ziemlich akribisch durchgehalten. Je mehr Kinder ich bekam, je mehr Herausforderungen mir das Leben zuwarf, desto mehr verstand ich: Medien sind in vielen Situationen ein absoluter Segen, weil sie adhoc zur Verfügung stehen, weil sie in kurzer Zeit dem Kind etwas geben, was es sehr gerne mag und die Eltern sofort eine Pause zum Durchatmen bekommen. Das funktioniert natürlich nicht bei allen Kindern. Aber in vielen Fällen sind Medienzeiten akute Entlastungszeiten für Eltern.
Gerade Mütter neigen dazu, das Kind so wenig wie möglich betreuen zu lassen. Woher kommt diese Sorge vor sogenannter „Fremdbetreuung“?
Nora Imlau: Das ist ein sehr deutsches Phänomen. In der Zeit des Kalten Krieges wurde im Westen der Begriff „Fremdbetreuung“ eingeführt, um die Kinderbetreuung im Osten abzuwerten. Und im Osten wurde der Begriff des „Hausmütterchens“ sehr populär, das war eine Art Systemkampf. Und nach der Wiedervereinigung hat sich das westdeutsche Narrativ durchgesetzt. Dieses Bild, dass das Kind die ersten drei Jahre ausschließlich von der Mutter betreut werden sollte, das wurde zu einer Art Leitbild. Was da jetzt noch daraufkommt, ist die Kita-Krise. Wir haben zu wenig Erzieherinnen, teilweise schlechte Betreuungsschlüssel, die Qualität hat tatsächlich abgenommen. Beides zusammen sorgt dann dafür, dass viele Eltern Kita wie ein Antibiotikum einsetzen: So viel wie nötig, so wenig wie möglich.
Was entgegnen Sie diesen Eltern?
Nora Imlau: Eine gute Kita ist für Kinder ein Lern- und Entwicklungsraum. Wenn sie gut eingewöhnt und betreut sind, macht eine Stunde mehr oder weniger Betreuung für sie keinen großen Unterschied, aber für uns Eltern schon. Viele Eltern nehmen sich auch nicht frei und schicken ihr Kind an dem Tag in die Kita, obwohl sie die Pause so dringend bräuchten. Ich empfehle Eltern genau das: Bucht die Betreuungsstunden hoch. Das ist eine pragmatische Lösung für sehr erschöpfte Eltern, die recht schnell umgesetzt werden kann.
In Ihrem Buch geht es auch um das Thema Schule, Schularbeiten und Lernen. Die meisten Eltern kennen das. Sie schreiben: „Niemand kann von euch erwarten, eure Beziehung über Schulkram zu gefährden.“ Wie meinen Sie das?
Nora Imlau: Es ist in unserer Gesellschaft sehr tief verankert, dass Erfolg in der Schule das Wichtigste ist für das weitere Leben. Es gibt aber etwas, das sehr viel wichtiger ist als Bildung und das ist die Bindung zum Kind. Wenn ich als Erwachsener eine Krise erlebe, ist es am allerwichtigsten, dass ich ein Grundvertrauen habe zu mir und der Welt. Bildung kann ich mir später noch draufschaffen, das ist mit fehlender Bindung schwieriger. Da musste ich als Mutter auch meine Prioritäten klarkriegen: Meine oberste Priorität ist, dass meine Kinder in Bindungssicherheit aufwachsen. Der Druck auf Eltern ist auch hier enorm hoch. Ihnen wird vermittelt: Es ist dein Job, dass das Kind Mathe lernt und Hausaufgaben macht.
Warum ist es denn nicht meine Aufgabe als Mutter oder Vater, dafür zu sorgen, dass mein Kind seine Hausaufgaben macht?
Nora Imlau: Ich habe den Bindungsforscher Jasper Juul mal in einem Interview gefragt, was ich tun soll, wenn mein Kind keine Hausaufgaben macht. Da hat er zu mir gesagt: „Das ist eine Sache zwischen Ihrem Kind und seinem Lehrer.“ Klar kann ich den Rahmen stellen für die Hausaufgaben und meine Hilfe anbieten. Aber wenn das Kind sich entscheidet, die Hausaufgabe nicht zu machen, ist das kein Konflikt zwischen uns. Das muss es mit der Lehrkraft klären. Ich habe in Elterngesprächen darauf hingewiesen, dass ich gerne jeden Tag das Angebot mache, aber ich werde nicht anfangen, unsere Eltern-Kind-Beziehung mit Drohungen und Konsequenzen zu belasten. Die Beziehung zwischen meinem Kind und mir ist wichtiger als jeder Schulerfolg.