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  7. Inklusion in der Schule: Probleme bei fehlender Schulbegleitung

Fehlende Schulbegleiter  Bildung für alle? Die bittere Realität der Inklusion an deutschen Schulen

Integrationshelfer sollen beeinträchtigte Kinder unterstützen. Wenn sie aber ausfallen, stoßen Lehrer an die Grenzen der Inklusionsmöglichkeit. Betroffene Familien sind ratlos und wütend.

Von Leonie Schulte und Jessica Quick Aktualisiert: 02.09.2024, 18:25
Seit der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 haben Kinder ein Recht auf inklusive Bildung. Ein Schulbegleiter kann dabei helfen.
Seit der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 haben Kinder ein Recht auf inklusive Bildung. Ein Schulbegleiter kann dabei helfen. (Symbolbild: IMAGO/Sebastian Willnow)

Hannah Lohmann* leitet gerade ein Meeting bei der Arbeit, als ihr Handy klingelt. Die Erzieherin der offenen Ganztagsschule ruft an. Tochter Lara müsse abgeholt werden. Starke Kopfschmerzen. Nicht bei dem Mädchen, sondern bei der Schulbegleitung. Die gehe jetzt nach Hause. Und damit ist auch für Lara der Schultag beendet. Wieder einmal.

Die Neunjährige ist eines von Tausenden Kindern, die im Schulalltag Unterstützung bekommen. Schulbegleitung heißt diese Hilfe und soll Kindern mit geistiger, seelischer oder körperlicher Beeinträchtigung den Schulbesuch erleichtern oder gar erst ermöglichen. Seit der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 haben Kinder ein Recht auf inklusive Bildung.

Weil das Schulsystem gar nicht für eine so personalintensive Arbeit ausgestattet ist, dient die Schulbegleitung als eine Art Krücke: Sie unterstützt die Kinder mit besonderen Bedarfen im Schulalltag, soll jedoch keine sonderpädagogischen Aufgaben übernehmen. Schulbegleiter benötigen in der Regel keine spezielle abgeschlossene Ausbildung, weshalb etwa in Sachsen-Anhalt auch Studierende, Praktikanten oder sonstige Hilfskräfte zum Einsatz kommen können. Sie erhalten entsprechend wenig Lohn.

Rundumversorgung

Ihre Aufgabe ist es, Kinder und Jugendliche zu begleiten, die in der Schule oder in der Offenen Ganztagsschule Schwierigkeiten haben. Manche Kinder können sich nur schwer konzentrieren, andere haben ihre Gefühle kaum unter Kontrolle.

„Ich dachte, ich tue meinem Kind damit etwas Gutes“

Mutter

Wieder andere Kinder sind körperlich oder geistig oder gleich in beidem beeinträchtigt. Wie stark, auch das variiert: Von leichteren Einschränkungen, wie bei Lara, bis hin zu schweren Behinderungen, die eine Rundumversorgung notwendig machen.

Herausforderungen der Schulbegleitung

Die Schulbegleitung ist also für die Kinder da. Sie entlastet aber auch die Lehrkräfte. Das ist allerdings nicht der eigentliche Sinn dieser Hilfe. Und es kann zum Problem werden. Nämlich dann, wenn die Schulbegleitung fehlt.

Wie im Fall von Lara. Das Mädchen leidet an einem seltenen Gendefekt und sitzt zeitweise im Rollstuhl. Kleine Strecken kann es laufen. Noch vor der Einschulung haben die Lohmanns bei der Kommune einen Antrag für eine Schulbegleitung gestellt. „Ich dachte, ich tue meinem Kind damit etwas Gutes“, sagt Mutter Hannah.

Sie wollte ihrer Tochter den Start in der Schule erleichtern. Hin und wieder kleine Hilfen beim Gehen und Schieben, ansonsten sollte Lara weiterhin so selbstständig wie möglich bleiben. Doch inzwischen bereut Hannah Lohmann diese Entscheidung.

Probleme der Vereinbarkeit

Nach dem Anruf während der Arbeit packt die Mutter nicht sofort ihre Sachen zusammen. Sie leitet das Meeting noch bis zum Ende, fährt erst dann zur Offenen Ganztagsschule (OGS). Es ist der letzte Tag, an dem sie Lara mit gutem Gefühl in die Betreuung schicken wird. Ein Streit zwischen OGS-Leitung, Kommune und Eltern entbrennt. „Das können wir nicht leisten!“, dieser Satz sei immer wieder gefallen, erzählt Lohmann.

Wenn die Schulbegleitung fehlt, müsse sie ihre Tochter sofort abholen. Sie hätte die Schulbegleitung ja nicht ohne Grund. Fällt diese länger aus, müssten Lösungen gefunden werden. Vielleicht ein Pflegedienst? Dass die Lohmanns sich einmal freiwillig für eine Schulbegleitung entschieden hatten, dass Lara auch alleine zur Toilette gehen kann, dass auch andere Kinder zuweilen Hilfe der Erzieherinnen in der OGS brauchen, darüber können sich die Beteiligten nach Lohmanns Schilderungen nicht mehr verständigen.

Wenn die Hilfe fehlt: Auswirkungen auf Familien

Mit ihrer Geschichte ist die Familie nicht allein. „Wir kennen das Problem“, sagt Eva-Maria Thoms, Vorsitzende von mittendrin e.V in Köln, ein Elternverein, der sich für Inklusion starkmacht. Immer wieder würden Kinder und Jugendliche vom Unterricht und der Ganztagsbetreuung ausgeschlossen, weil die Begleitung fehlt.

Mal geht es dabei um einzelne Tage, manchmal aber auch um Wochen und Monate, in denen Kinder nicht unterrichtet werden und Eltern vor unlösbaren Vereinbarkeitsproblemen stehen. Und die an den Familien zehren.

Schulpflicht und die Rolle des Staates bei der Inklusion

Dabei könne der Unterrichtsbesuch eines Kindes nicht grundsätzlich von der Verfügbarkeit eines Schulbegleiters abhängen, findet Vereinsvorsitzende Thoms. „Schulpflicht umfasst eben auch die Verpflichtung des Staates, die Kinder zu beschulen.“ Die Kinder zu beschulen läge in erster Linie in der Verantwortung der Schule, meint sie.

"Schulpflicht umfasst eben auch die Verpflichtung des Staates, die Kinder zu beschulen.“

Eva-Maria Thoms, Vorsitzende von mittendrin e.V

Dass Theorie und Praxis divergieren, bestätigt das Landesschulamt in Sachsen-Anhalt. „Auch für Schüler mit Schulbegleitung gilt grundsätzlich die Schulpflicht“, sagt Sprecher Tobias Kühne. In der Praxis komme es aber vor, dass der Schulbesuch verkürzt werden muss oder zeitweise gar nicht stattfinden könne, wenn die Schulbegleitung ausfällt.

„Die Behinderung ist in solchen Fällen so schwerwiegend, dass der Schulbesuch ohne die Unterstützung nicht möglich ist“, sagt Kühne. Das sei etwa der Fall, wenn Schüler ohne Schulbegleitung eine Gefahr für sich und andere sein können. In solchen Fällen finde eine Abwägung des Risikos im Verhältnis zur Erfüllung der Schulpflicht statt.

Wolfgang Dworschak, Professor für Sonderpädagogik und inklusive Pädagogik weiß: „Die Schulen stehen unter immensem Druck.“ Unter diesen Umständen könne er durchaus verstehen, dass Lehrkräfte die Schulbegleitung in bestimmten Fällen zur Bedingung machen, um inklusiv zu unterrichten.

Auch Lehrkräfte und Schulleitungen sprechen nur anonym wirklich offen über die Probleme, die Inklusion im Schulalltag mit sich bringt. Natürlich verstehe er, was das für die Familien bedeutet, aber in erster Linie schaue er nach den Kollegen, sagt etwa ein Schulleiter aus einem sozialen Brennpunkt.

Viele seiner Kollegen seien sehr engagiert und gäben ihr Bestes, Inklusion möglich zu machen. „Aber wenn mir eine Kollegin sagt, dass sie das nicht leisten kann, dann nehme ich das ernst.“

Fehlende Ressourcen und uneinheitliche Zuständigkeiten

Es sind Anekdoten, die das Problem skizzieren. Wie viele Kinder wirklich aufgrund des Fehlens ihrer Schulbegleitung vom Unterricht ausgeschlossen werden, ist kaum zu beziffern. Vor allem deshalb, weil nicht einmal klar ist, wie viele Kinder überhaupt auf die Hilfe einer Schulbegleitung angewiesen sind.

Bundesweite Zahlen gibt es nicht, oft haben nicht einmal die Länder einen genauen Überblick, weil die Kommunen die Schulbegleitung organisieren und mal Sozialämter, mal Jugendämter über die Hilfe entscheiden. Laut Ministerium für Soziales in Sachsen-Anhalt wurden in diesem Jahr allein für die Träger der Eingliederungshilfe Anträge für mehr als 970 Schüler bewilligt.

Der Bedarf ist gestiegen. Und zwar enorm. Vor allem seelische und soziale Probleme spielten laut Statistischem Bundesamt eine immer größere Rolle. Demnach sei zwischen 2009 und 2019 die Zahl der „Eingliederungshilfen für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung“ – zu der nicht nur Schulbegleitungen, sondern auch Beratungs- und Therapieangebote zählen – um 156 Prozent gestiegen.

So wundert es nicht, dass in deutschen Schulklassen mitunter zwei, drei oder gar vier Erwachsene in den Schulbänken sitzen. Sie sind meist über freie Träger angestellt, also nicht direkt bei den Schulen. Schulleitungen haben daher kaum Einfluss darauf, welche Person in den Klassen sitzt. Auch das erschwert die gemeinsame Arbeit. Dabei ist es das, was in den Gesprächen mit Lehrkräften, Eltern und Schulbegleitungen am stärksten durchhallt: der Wunsch danach, gemeinsam zu arbeiten. Im besten Sinne für das Kind.*Die Namen der Familienmitglieder sind von der Redaktion geändert.

Antrag Kosten

Eltern dürfen laut Gesetz eine Hilfe in Anspruch nehmen, wenn das Ziel – eine erfolgreiche Eingliederungshilfe – erfüllt werden kann. Um das beurteilen zu können, braucht es ein entsprechendes Gutachten.

Für den Antrag sowie die Finanzierung einer sogenannten Integrationshilfe für Kinder und Jugendliche können sich Eltern an das entsprechende Sozial- bzw. Jugendamt wenden. In Sachsen-Anhalt sind Sozialämter bei geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung zuständig, Jugendämter bei seelischer Beeinträchtigung wie Entwicklungsverzögerungen, Autismus oder ADHS-Syndrom.

Wird der Antrag bewilligt, übernimmt das Sozial- bzw. Jugendamt die Kosten einkommensunabhängig.