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Gewalt bei der Geburt Unfreundlich, übergriffig, ungefragt: Warum sich diese Hebamme für eine "Mittäterin" hält

Schätzungen gehen davon aus, dass rund jede zweite Frau unter der Geburt verbale oder körperliche Gewalt erlebt. Eine Hebamme hat nun darüber ein Buch erfasst. Im Interview spricht sie über ihre Erfahrungen.

Von Saskia Heinze Aktualisiert: 22.07.2024, 17:09
Eine Geburt kann Angst machen und verunsichern – erst recht in einem Umfeld, das  einem fremd ist.
Eine Geburt kann Angst machen und verunsichern – erst recht in einem Umfeld, das einem fremd ist. Foto: Imago//Westend61

Eva Placzek hat in ihrer Ausbildung zur Hebamme miterlebt, wie im Kreißsaal täglich Grenzen überschritten wurden. Ihre Erlebnisse hat sie in einem Buch veröffentlicht („Ich, Hebamme, Mittäterin. Mein Einsatz gegen Gewalt im Kreißsaal und für eine sichere Geburtshilfe“, Goldegg-Verlag). Im Interview mit Saskia Heinze spricht die 26-Jährige über Einsätze, die ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen, woran das System der Geburtshilfe in Deutschland krankt – und worauf Schwangere achten sollten.

Eva Placzek ist Hebamme und weiß: "Es ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen, dass es total wichtig ist, dass sich Frauen während der Geburt ihres Kindes gut aufgehoben fühlen."
Eva Placzek ist Hebamme und weiß: "Es ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen, dass es total wichtig ist, dass sich Frauen während der Geburt ihres Kindes gut aufgehoben fühlen."
Goldegg-Verlag

Frau Placzek, Sie arbeiten als Hebamme und bezeichnen sich in Ihrem Buch als Mittäterin. Wieso?

Eva Placzek: Zur Mittäterin wurde ich schon, als ich in Ausbildung war. Seit meinen ersten Einsätzen im Kreißsaal begleiten mich Schuldgefühle. Ich habe sehr schnell gefühlt: Hier läuft etwas richtig falsch. Frauen wird unter der Geburt körperlich und verbal Gewalt angetan. Ich habe aber lange Zeit nicht eingegriffen. Ich stand in der Ecke, habe den vermeintlich erfahrenen Hebammen über die Schulter geschaut, und bin stumm geblieben.

An welche Situationen im Kreißsaal denken Sie da?

Wer als Hebamme arbeitet, hat einen machtvollen Beruf. Ich habe immer wieder eine unprofessionelle Kommunikation erlebt. Frauen wurde gedroht, wenn sie eine bestimmte Geburtsposition verändern wollten. Was ihnen denn einfalle, das schade dem Kind, es könne dadurch sterben. Es wurde auch selten erklärt, dass man sich melden soll, wenn sich eine Untersuchung schmerzhaft anfühlt. Und es gab medizinische Eingriffe, bei denen vorher nicht um Erlaubnis gefragt und aufgeklärt wurde.

Zum Beispiel?

Wie oft habe ich es erlebt, dass Frauen gerade ihre Wehen in der Badewanne verarbeitet haben und plötzlich von hinten eine Hebamme ihre Hand in den Intimbereich gebracht und minutenlang untersucht hat. Ohne Vorwarnung! Besonders schlimm fand ich es, wenn plötzlich Abwandlungen des Kristeller-Handgriffs angewandt wurden. Dabei drücken Geburtshelfende gewaltvoll auf den Bauch der Gebärenden, um die Geburt zu beschleunigen. Dabei ist umstritten, ob das überhaupt hilft. So eine Maßnahme muss man unbedingt ankündigen und mit der Frau besprechen, ob sie das will. Alles andere ist meiner Meinung nach übergriffig.

Haben Sie während Ihrer Ausbildung zur Hebamme selbst auch Grenzen überschritten?

Leider ja. Ich muss immer wieder an eine Frau denken, die ich unter der Geburt gegen ihren Willen weinend vaginal untersucht habe. Die Frau hatte deutlich Nein gesagt und sich weggedreht. Die diensthabende Hebamme an meiner Seite hat aber gesagt, ich müsse das jetzt tun, sonst gebe es Konsequenzen. Ich werde diese Bilder nicht mehr los.

Weshalb Sie sich nach Ihrer Ausbildung auch aus dem Kliniksetting verabschiedet haben. Heute arbeiten Sie als freiberufliche Hebamme und betreuen vor allem Frauen im Wochenbett.

Genau. Trotzdem bleibt die Gewalt auch nach der Geburt Thema. Ich erlebe es sehr oft, dass Frauen im Wochenbett weinen. Sie wissen gar nicht genau, warum. Im Gespräch kommt dann heraus, dass sie sich fühlen, als hätten sie unter der Geburt versagt. Gewisse Sätze und Situationen aus dem Kreißsaal hallen noch im Kopf nach. Daran merke ich: Für viele ist es fast schon selbstverständlich, dass sie schlecht behandelt werden. Dabei ist das alles andere als normal. Etwa, dass ich Medikamente bekomme, von denen ich nichts weiß. Dass ich mich ins Bett legen muss, statt mich frei zu bewegen. Dass ich beleidigt werde, und das in einer Extremsituation, in der ich auf die Hilfe von außen angewiesen bin. Das ist doch keine wertschätzende Geburtshilfe.

Kann sich eine Frau unter diesen Umständen überhaupt auf eine Geburt freuen?

Natürlich! Es gibt so viele wunderschöne Geburten. Es gibt auch wirklich tolle Kliniken, in denen wunderbare Hebammen, Ärztinnen und Ärzte arbeiten. Man kann sich nur leider nicht darauf verlassen, gut betreut zu werden. Deutschland muss unbedingt flächendeckend etwas dafür tun, dass es insgesamt bessere Bedingungen gibt. Das ganze System der Geburtshilfe muss sich verändern.

Wie meinen Sie das?

Fast 97 Prozent aller Geburten hierzulande finden in Kliniken statt. Die Frau weiß vorher nicht, wer sie betreut. Das ist ein fremdes Umfeld, mit Menschen, die sie nicht kennt. Unter der Geburt wechselt das Personal auch noch im Schichtwechsel. Und es gibt keine Eins-zu-eins-Betreuung. Medizinische Leitlinien empfehlen das eigentlich. Wir haben in den Kliniken aber einen totalen Personalmangel. Eine Hebamme kommt also oft nur kurz zur Untersuchung rein – und lässt die Frau dann über lange Zeit allein.

Was gerade unter der Geburt total verunsichern kann.

Eine Geburt ist ein absoluter Ausnahmezustand. Wie soll sich eine Frau da sicher fühlen? Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass es total wichtig ist, dass sich die Frau gut aufgehoben fühlt. Das ist die wichtigste Aufgabe, die Hebammen haben. Nur so können überhaupt geburtsfördernde Hormone ausgeschüttet werden. Ich wundere mich deshalb auch nicht, dass wir hierzulande im internationalen Vergleich deutlich mehr Kaiserschnitte haben. Jede dritte Geburt endet so.

In ihrem Buch "Ich Hebamme Mittäterin" appelliert Eva Placzek an mehr Empathie und einen Systemwechsel in der Geburtshilfe.
In ihrem Buch "Ich Hebamme Mittäterin" appelliert Eva Placzek an mehr Empathie und einen Systemwechsel in der Geburtshilfe.
Goldegg-Verlag

Von welchem Land kann Deutschland lernen, wenn es um die Geburtshilfe geht?

Schauen Sie sich die Niederlande an. Dort übernimmt eine Hebamme das ganze Programm: Vorsorge, Geburt und Nachsorge. Die Folge ist, dass sich das betreuende Personal und die Frau über Monate hinweg kennen. Schwangere wissen also, wen sie anrufen, wenn die Wehen beginnen. Wer sie begleitet. Das ist ein ganz anderes Vertrauensverhältnis. Außerdem finden viel mehr Vorsorgen und Geburten zu Hause oder im Geburtshaus statt.

Was hätte Ihnen in Ihrer Ausbildung zur Hebamme geholfen?

Der Fokus auf das Menschliche hat mir total gefehlt. Also sich im Team darüber auszutauschen, wie man die Frauen auf emotionaler Ebene gut begleiten kann. Es gab auch keine Supervisionen und Reflexionen in Teams, wo man Fälle nachbesprochen hat. Das müsste eigentlich in jeder Klinik Standard sein. Es gibt in Deutschland auch keine Ethikkommission, die im großen Stil nachschaut, ob Kreißsäle evidenzbasiert arbeiten. Deshalb sind viele nicht auf dem neuesten medizinischen Stand.

Was raten Sie Schwangeren, die demnächst eine Geburt vor sich haben?

Werdenden Müttern kann ich nur raten: Informiert euch! Wer viel über Schwangerschaft und Geburt weiß, fühlt sich weniger ängstlich und ist auch weniger hilflos. Aufklärung ist das Wichtigste. Viele Frauen wissen zum Beispiel gar nicht, dass sie statt der Frauenärztin auch eine Hebamme anrufen können, um mit dem positiven Schwangerschaftstest eine erste Vorsorgeuntersuchung zu vereinbaren. Ganz wichtig ist auch, dass man eine Vertrauensperson bei der Geburt dabeihat. Das kann der Partner sein, eine gute Freundin, die eigene Mutter. Es braucht einfach einen Menschen, der auf einen aufpasst und in schwierigen Situationen für einen sprechen kann.